Resonanz und Dialog

 

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Doch wie gelingt es dem Lebendigen eigentlich,
dass das Dasein innerhalb der eigenen leiblichen Grenzen nicht einem Abgeschottetsein gleichkommt,
sondern dass es auf verschiedensten Ebenen und auf unterschiedlichste Weise eine Begegnung,
einen Austausch zwischen innen und außen zu verwirklichen vermag?
Dem Lebendigen gelingt das dadurch, dass es in sich ganz verschiedene Arten von Resonanzfähigkeiten entwickelt,
den eigenen Organismus somit zu einem Resonanzorgan mit unterschiedlichsten Ansprechbarkeiten bildet.

Alexander Lauterwasser
 

 

 

 

 

 



 

 




Wie beginnt Dialog, was belebt ihn und was lässt ihn sterben?

Hier beleuchte ich diese Fragen im Licht der Theorien von Hartmut Rosa ("Resonanztheorie" ) und Otto Scharmer ("Theorie U" ) und stelle eine nützliche "Landkarte" für den Weg zu wesentlicher Begegnung vor:


 

Was ist Dialog? 
 

Dialog beginnt in dem Augenblick, in dem sich Resonanz zwischen Menschen entwickelt. Dialog beginnt, wenn Menschen sich in einen Fluss des gegenseitigen Zuhörens begeben, eintauchen in einen Fluss des Befragens, Inspirierens, des gemeinsamen vorbehaltlosen lauten Denkens, des würdevollen Anerkennens unterschiedlicher Sichten, des gemeinsamen Ringens um Verstehen: den Andern, das Thema, sich Selbst.

Das Wesentliche: Es geht um die Sache, das Anliegen und nicht um Gewinnen. Letzeres ist eher das Ziel der Debatte und Diskussion. Dialog ist Resonanz, über die niemand verfügen, die niemand kontrollieren kann. Sie kann zwar verhindert, aber nicht hergestellt werden. Darin liegt der Zauber und die Einmaligkeit eines gelingenden Dialogs. 

Wenn auch niemand diese Resonanz herbeireden kann, so kann man doch mit der nötigen Achtsamkeit den Boden dafür bereiten, damit keimen und blühen kann, was den Anwesenden als Potential des einander Wahrnehmens und gemeinsamen Verstehens gegeben ist. Eine der ursprünglichen Bedeutungen des Begriffs 'Dialog' lautet: Fliessen der Worte[1]. Für die Phasen dieses Fliessens der Worte möchte ich eine Skizze vorstellen, die für mich zu einer unverzichtbaren mentalen Landkarte bei meiner Arbeit mit Menschen geworden ist - eine Landkarte, von der ich mich leiten lasse, wenn es gilt, Resonanzräume für Menschen zu schaffen, die über Wesentliches sprechen wollen.

Wie jede Landkarte ist sie eine Abstraktion, das heisst, ihr Nutzen ergibt sich aus einer guten Balance zwischen der Konzentration auf Wesentliches und gezieltem Weglassen von Details. Ein weiteres wichtiges Merkmal von Landkarten ist ihr Massstab, und somit auch der Grad der Detaillierung, der je nach Bedarf unterschiedlich gewählt werden kann. Die hier vorgestellte Landkarte entspricht - metaphorisch gesprochen - dem Masstab, der in Landkarten verwendet wird, wenn die Erde als frei schwebende Kugel im Weltall dargestellt wird.

Im Zuge der Digitalisierung ist es heute möglich, uns in solch eine interaktive Karte nach Belieben hinein zu "zoomen", also den Massstab so zu verändern, bis wir schliesslich einzelne Gebäude, Strassen und sogar Wanderwege erkennen können. In diesem Sinne verstehe ich die hier dargestellte Landkarte zwischenmenschlicher Kommunikation als einen Ausgangspunkt, von dem aus mit Hilfe weiterführender Theorien und Modelle viele Aspekte menschlichen Erlebens und Verhaltens herangezoomt werden könnten. In meiner Darstellung beschränke ich mich jedoch auf einen kurzen Ausflug in die Resonanztheorie von Hartmut Rosa und die sogenannte "Theorie U" von Otto Scharmer.
 

Das Konzept der Resonanz nach Hartmut Rosa 
 

Der Mensch sehnt sich danach, über Resonanzbeziehungen mit der Welt verbunden zu sein - davon ist Hartmut Rosa, Professor für Soziologie in Jena, überzeugt: Wird Resonanz nicht erfahren, erleben wir dies als Entfremdung. Die Welt, der Andere bleibt für uns bedeutungslos. Wir können keine Beziehung herstellen.
 

Hartmut Rosa definiert Resonanz wie folgt:
"Resonanz ist eine durch [...] intrinsisches Interesse und Selbstwirksamkeitserwartung gebildete Form der Weltbeziehung, in der sich Subjekt und Welt gegenseitig berühren und zugleich transformieren.[...] Resonanz ist keine Echo-, sondern eine Antwortbeziehung: sie setzt voraus, dass beide Seiten mit eigener Stimme sprechen, und dies ist nur dort möglich, wo starke Wertungen berührt werden."
"Resonanzbeziehungen setzen voraus, dass Subjekt und Welt hinreichend geschlossen bzw. konsistent sind, um mit je eigener Stimme zu sprechen, und offen genug, um sich [...] erreichen zu lassen."
Er schreibt: "Resonanz impliziert ein Moment konstitutiver Unverfügbarkeit." - dies bedeutet: Resonanzphänomene sind nicht nach unserem Willen herstellbar, wir können nicht über sie verfügen, sie nach Belieben manipulieren. Sie können sich nur dort einstellen, wo Grundvoraussetzungen für ihre Entstehung gegeben sind.
 

Grundvoraussetzungen für die mögliche Entstehung einer resonanten Beziehung sind entsprechend seiner Definition, dass ...

  1. ... jeder von uns mit eigener Stimme spricht ("ich bin mir bewusst, was mir am Herzen liegt und wage dafür einzustehen.")
  2. ... wir gemeinsame Werte teilen ("uns liegt Gleiches am Herzen. Es gibt Werte, an denen wir uns beide orientieren.")
  3. ... wir offen für den Anderen sind ("ich bin daran interessiert, Deine Stimme zu hören, unabhängig davon, ob wir übereinstimmen oder nicht.")

 

Diese Grundvoraussetzungen sind jedoch keine Garantie für Resonanz: Nicht jede Begegnung, in der wir mit eigener Stimme sprechen, einander mit Interesse zuhören und entdecken, dass wir gemeinsame Werte teilen, führt zu angeregten Gesprächen, die in uns weiterwirken. Hartmut Rosa verwendet hierfür den altertümlichen Begriff der "Anverwandlung". Er schreibt: "Daher [...] sind Resonanzbeziehungen Ausdruck gelingender Anverwandlung von Welt, nicht Formen ihrer Aneignung im Sinne einer Ressourcenerweiterung." Das heisst, es geht nicht um Besitzen oder gar Einverleiben, sondern um gegenseitige Transformation, die uns im Moment des resonanten Bezogenseins geschieht.

 

Hartmut Rosa verwendet als Metapher zur Erläuterung der Grundbedingungen für gelingende Resonanzbeziehungen den Begriff der Resonanz in der Physik:

Resonanz zwischen zwei (Klang)-Körpern kann nur stattfinden, wenn beide halb offen sind - d.h. fest genug um selbst schwingen zu können und offen genug, um empfänglich für andere Schwingungen zu sein (anregbar). Wenn der Körper zu offen ist, kann die Eigenschwingung nicht entstehen, löst sich der Körper im Schwingungsfeld des Anderen auf bzw. wird von dessen Schwingungen absorbiert und verliert die eigene Identität. Wenn wir zu verschlossen sind, sind wir nicht empfänglich, zu starr und eine Resonanzverbindung kann wiederum nicht entstehen.

Die Kommunikation zwischen zwei Menschen - Ich und Du - können wir uns folglich als einen Prozess der Resonanz vorstellen, der aus einer wechselnden Abfolge von Antworten und Zuhören zwischen zwei selbstbewussten, aneinander interessierten Menschen entsteht.

Wir begegnen uns:

 

 




Du sagst etwas, ich höre zu:

 

 




Ich denke nach, antworte, und nun hörst Du zu:

 

 




Und so begeben wir uns in einen Prozess des wechselseitigen Antwortens und Zuhörens:

 

 



 

Wenn wir nur auf Verstandesebene miteinander kommunizieren, dann können wir es bei dieser letzten Grafik belassen. Zum Beispiel wenn Du mich fragst: "Wie komme ich zum Bahnhof?" und ich Dir den Weg dorthin erkläre: "Erst gehst du geradeaus, zweite links und dann beim Parkhaus rechts! - in circa 5 Minuten solltest Du da sein".
 

Wenn du mich jedoch fragst: "Lass uns in die Berge fahren und wandern, was hältst du von dieser Idee?" kommt mein Selbst ins Spiel. Nun muss ich mich erst einmal selbst innerlich befragen, bevor ich Dir eine Antwort geben kann. 'Hmm, in die Berge, will ich das jetzt, und falls ja, auch mit ihr oder ihm?'. Bevor ich vorschnell mit meinem Verstand antworte, lasse ich die Vorstellung des gemeinsamen Wanderns in den Bergen auf mich wirken. In diesen Entscheidungsprozess des 'Wirken-Lassens' fliessen nun sowohl verschiedene Erfahrungen mit Ausflügen in die Berge im Allgemeinen als auch mit Dir im Speziellen ein. Diesen Prozessschritt können wir uns so vorstellen:


 

 



 

Wenn ich solch eine Vorstellung auf mich wirken lasse, empfange ich meist früher oder später eine Antwort in Form eines Gefühls bzw. einer inneren Resonanz. Antonio Damasio, ein bekannter zeitgenössischer Neurowissenschaftler, spricht hier von somatischen Markern, die jede Erfahrung in unserem Gedächtnis mit einer emotionalen Färbung versehen. Werden Erfahrungen unbewusst über neuronale Netzwerke aktiviert, so summieren sich diese somatischen Marker zu einem Gesamtgefühl ("gutes Bauchgefühl", "gemischte Gefühle"), die in uns unterschiedlich stark entweder Zustimmung, Ablehnung oder eine Mischung aus beidem signalisieren.
 

Diese gefühlte Antwort meines Selbst berücksichtige ich in meiner verbalen Antwort - zum Beispiel: "Weißt du, an sich wandere ich sehr gerne, aber ich merke, dass wir nach unserer letzten Auseinandersetzung erst noch etwas klären müssen, bevor wir mal wieder etwas gemeinsam unternehmen.":


 

 




... und Du hörst zu:


 

 




 

Es gibt nun die Möglichkeit, dass du anders als ich nur mit dem Verstand reagierst - zum Beispiel: "Jetzt sei doch nicht so nachtragend!"


 

 





... oder ebenfalls meine Antwort auf Dich wirken lässt und in Resonanz mit Deinem Selbst reagierst - "ich wusste nicht, dass das für Dich noch zwischen uns steht. In dem Fall würde ich gerne mehr darüber erfahren, was für Dich noch geklärt werden muss. Für mich persönlich war es eigentlich damals gut so."


 

 





 

Sofern wir wir beide in einem guten Selbstkontakt sind, können wir gemeinsam einen achtsamen Dialog führen. Zufälligerweise bekommt hier das Wort "Acht-samkeit" noch eine zusätzliche wortwörtliche Bedeutung: Die Schleife, die durch den Dialog mit sich selbst entsteht, gleicht einer liegenden Acht. Zusammen bilden wir in einem beiderseits authentischen Dialog eine doppelte Schleife: Auf einen Kontakt nach innen folgt der Kontakt nach aussen, auf eine Frage des Anderen befragen wir uns erst einmal selbst und antworten erst dann. Innerer und äusserer Dialog wechseln sich also ab.
 

Nun gibt es verschiedene Gründe, warum der notwendige Selbstkontakt bzw. Dialog mit sich selbst nicht oder nicht genügend stattfindet.
 

Zwei wesentliche Gründe sind folgende:

  • Aspekte der Persönlichkeit: Eine starke Neigung, vorwiegend mit dem rationalen Verstand Erfahrungen zu analysieren und entsprechende Entscheidungen zu treffen sowie über Bauchgefühle und Gestimmtheiten hinwegzugehen bzw. diese gar nicht bewusst wahrzunehmen.
  • Aspekte der Situation: Mit Zunahme von Stress und subjektiv empfundener Bedrohung nimmt unsere Fähigkeit ab, entspannt in uns hineinzuhorchen. Unser Körper konzentriert sich reflexhaft auf analytische Objekterkennung ("Da war ein Geräusch - was ist das?"), um blitzschnell eine Entscheidung treffen zu können: Angriff oder Flucht.[2] In Prüfungssituationen kann das bedeuten, dass wir nicht mehr denken können, sondern nur noch auf das Papier, das Pult, den Prüfer starren - wir sehen die Maserung der Tischplatte, die Farbe des Brillengestells unseres Prüfers, können jedoch keinen klaren Gedanken mehr fassen. In diesem Fall ist das Ausmass des Stresspegels so hoch, dass wir eine Denk-Blockade erleiden. Ist der Stresspegel etwas niedriger, erleben wir nur eine Selbst-Blockade: Wir können zwar noch auswendig gelernte oder sehr gut eingeübte Inhalte erinnern und wiedergeben, sind jedoch nicht entspannt genug, vernetzt zu denken und aus dem Vollen unseres Wissens und unserer Fähigkeiten zu schöpfen: Unser Selbst ist blockiert. Kreative, innovative und persönliche Antworten auf unerwartete Fragen sind nicht möglich. Wir befinden uns subjektiv im Überlebensmodus: Keine Zeit und Energie für spielerisches und risikobehaftetes Entwickeln neuer Antworten mit Hilfe der Kraft aus dem Selbst.[3]

 

 

Je nach Ausmass des Stresspegels folgt also zunächst die Selbst-Blockade - wir können nur noch gut gelernte Antworten geben, wenn das entsprechende Stichwort uns gegeben wird - und bei weiterer Zunahme unseres Stresspegels sogar die Denk-Blockade.
 

Diese beiden SELBST-beschränkenden Wirkungen (Persönlichkeit und/oder negativer Stress / Angst in einer Situation) sind in der folgenden Grafik mit einer grau schattierten Fläche dargestellt. Wir bleiben mit unserer persönlichen Präsenz unter unseren Möglichkeiten, weil wir nicht aus all unseren Ressourcen ("Selbst, Erfahrungsschatz, unser Wesen") vollumfänglich schöpfen:

 

 



 

In unserem ängstlichen oder rein auf Verstandesebene geführten Dialog bleibt also das fühlende Selbst als tiefer reichender Resonanzraum ungenutzt. Im Bild gesprochen: es ist, als ob wir die Saite einer Geige spielten, die nicht mehr mit ihrem Resonanzkörper verbunden ist. All die Ober- und Untertöne des vielschichtigen Resonanzkörpers - im übertragenen Sinne die Schichten unserer Werte, Bedürfnisse sowie bisherigen Erfahrungen, kurz: unser Selbst - bleiben ungehört und somit unberücksichtigt. Die Folge kann eine Entscheidung sein, die ich im nach hinein bereue, zum Beispiel am nächsten Tag, nachdem ich in nächtlichen Träumen den wichtigen Selbstkontakt nachholen konnte.

Bei der Diskussion einer Mathematik-Aufgabe mag die Resonanz unseres Selbst verzichtbar sein, jedoch nicht, wenn wir uns als ganze Personen ansprechen wollen, in denen es auch um Interessen und Werte geht, mit der Absicht, uns gegenseitig zu inspirieren, zu motivieren und zu überzeugen. 

Ein Gespräch, in dem wir im Falle einer Meinungsverschiedenheit lediglich auf Verstandesebene mit Argumenten einander zu überzeugen versuchen - also ohne unsere Selbst-Resonanz und die unseres Gesprächspartners einbeziehen - nennt Otto Scharmer in seiner Theorie U "Tough Talk": Es geht um Fakten und Gewinnen, nicht um Einfühlen und Verstehen unseres Gesprächspartners[4].

Wenn wir uns dafür entscheiden, unsere inneren Antworten - d.h. unsere Resonanz auf die Frage - in Form von zustimmenden oder ablehnenden Gefühlen und die Gründe hierfür mitzuteilen und einander emphatisch zuzuhören, so handelt es sich im Sinne der Theorie U um den emphatischen, einfühlsamen Dialog, den Otto Scharmer auch "Open Heart" nennt.


Den Kommunikationsprozess auf der Ebene "Open Heart" habe ich bereits weiter oben so dargestellt:
 

 




Jedoch gibt es eine weitere Ressource, die auf der Ebene "Open heart" noch ungenutzt bleibt und deshalb in der folgenden Grafik grau dargestellt ist.
 

 



 

In ihrem Buch "Die Heldenreise" betonen Stephen Gillighan und Robert Dilts,[5] dass es noch eine weitere Ressource neben dem "generativen", also schöpferischen Selbst gibt. Sie sprechen von einem Feld, das wir uns mit unserer Präsenz und unserer Bereitschaft, uns für einander zu öffnen, erschliessen. Sie nennen es das generative Feld. Otto Scharmer spricht in seiner Theorie U vom sogenannten "Open Will" - jener Ebene der Aufmerksamkeit, auf der wir unsere Vorstellungen, von dem was zu sein hat und/oder wir finden wollen, loslassen und uns gemeinsam öffnen und überraschen lassen, was werden will. In meiner Landkarte nenne ich das, dem wir uns öffnen, einfach das "Feld":

 

 



 

Dreifach öffnen 
 

Wir müssen uns also dreifach öffnen, wenn wir das gesamte Potential des schöpferischen Dialogs nutzen wollen:
 

  • Öffnen für unser SELBST: Selbstbefragung, Bereitschaft, sich selbst zu spüren, auf die eigene Stimme zu hören, sich von ihr führen zu lassen. → Resonanz mit sich selbst erleben.
  • Öffnen für den ANDEREN: Emphatischer Dialog, den anderen in seinem Anders-Sein, Fühlen und Wahrnehmen würdigen, sein lassen, bezeugen: Ja, ich nehme Dich wahr: so fühlst Du und das ist Deine Sicht der Dinge. → Resonanz mit dem Anderen erleben.
  • Öffnen für das gemeinsame FELD, erzeugt durch Dich, mich, und alle anderen Anwesenden, das System, innerhalb dessen wir uns begegnen, sei es eine Organisation, Team, Familie ... sowie die Qualität des Ortes, an dem wir uns befinden. → Resonanz mit dem Feld erleben

 


 

Diese drei Schritte der Öffnung können nur in dieser Reihenfolge vollzogen werden: 

Erst wenn ich mit mir in Kontakt bin, kann ich mich in Dich wahrhaftig einfühlen.

Erst wenn wir miteinander verbunden sind, kann ich das Feld, das wir miteinander schaffen oder zu dem wir beitragen, wahrnehmen und nutzen.
 

Wenn wir in der Natur sind, können wir alleine oder gemeinsam den Zugang zu diesem Feld finden, indem wir uns dem Anwesenden respektvoll zuwenden: Pflanzen, Tiere, Erde, Steine, etc. Respektvoll zuwenden bedeutet Wahrnehmen auf Subjektebene: Der Baum ist zum Beispiel kein Ding, reduziert zu einem Stück Materie, das ich einfach für meine Zwecke benutzen kann (Fällen, Sägen, Verfeuern, Zimmern ...), sondern ein lebendiges pflanzliches Wesen, das auf vielfache Weise mit anderen Pflanzen lebendig vernetzt ist.

Ein Beispiel: Beschwert mit Trauer um meinen verstorbenen Vater sehe ich bei einem Waldspaziergang einen umgestürzten alten Baum, aus dessen morschen Stamm im Schutz der sich abschälenden Rinde bereits neue Keimlinge anderer Pflanzen spriessen. Ich sehe plötzlich nicht mehr nur den Tod sondern diesen im immer währenden Kreislauf des Lebens: Aus Altem erwächst Neues, der Tod ist untrennbarer Bestandteil des Lebendigen. Es ist aber nicht nur ein Gedanke. Den kannte ich schon vorher. Die Schönheit des Anblicks, der süssliche Duft feuchten Laubes, das sanfte Rauschen des Windes in den Baumkronen lassen mich diese Einsicht auch sinnlich erfahren und entfalten eine tröstende Wirkung in mir. Die mich umgebende Natur hat sich als Resonanzkörper für mein inneres Erleben angeboten. Mein Blick auf den Tod, mein Gefühl der Trauer weitet sich. 

Es muss aber nicht die Natur sein. Trete ich in den Empfangsbereich eines Unternehmens ein, spüre ich ebenfalls eine Atmosphäre, vermittelt durch Gerüche, Geräusche, Archtitektur, Einrichtungsgegenstände, das Logo und die Menschen, die sich darin bewegen und vieles mehr. Was teilt sich mir hier mit? Welche Resonanzen werden in mir ausgelöst - Empfindungen, Assoziationen, Stimmungen. Wie fühle ich mich in der marmornen Empfangshalle der grossen Bank, in der - so scheint es - sogar ein kleines Einfamilienhaus Platz hätte, umgeben von baumhohen Säulen aus Marmor, die ein gläsernes Kuppeldach tragen? Ehrfürchtig oder geehrt? Geborgen oder verloren? Im Modell der kulturellen Ebenen von Edgar Schein handelt es sich bei den materiell wahrnehmbaren Aspekten solch eines Feldes um die Ebene der sogenannten kulturellen Artefakte.[6].

In der Organisationsaufstellung wird das Beziehungsfeld mit Hilfe der Aufstellung von Vertretern der Akteure sichtbar und durch Interventionen - zum Beispiel eine andere Platzierung im Raum - dessen Dynamik durch die hierdurch ausgelösten Empfindungen aller aufgestellten Personen erfahrbar gemacht.[7] Resonanzen mit dem aufgestellten Beziehungsfeld sind nicht immer angenehm. Sie können das gesamte Spektrum menschlichen Erlebens abdecken. Robert Dilts schreibt: "Man kann sich in einem Feld der Furcht, der Wut oder der Gewalt verfangen, welches das eigene Verhalten beeinflusst."[8]
 

Der praktische Nutzen dieser Landkarte für meine Arbeit

Die Essenz meiner Arbeit mit Menschen besteht auch darin, Resonanzgeschehen zu ermöglichen: damit meine ich im Rahmen eines Coachings neben der Vermittlung von handwerklichem Wissen (Methoden) die Einladung zu Selbst-Reflexion, um im Sinne eigener Werte und Ziele handlungsfähig(er) zu werden und hierfür Kraft aus dem eigenen Selbst zu schöpfen.

Im Rahmen systemischer Kontexte (Organisationen) bedeutet die Ermöglichung von Resonanzgeschehen, dass ich Menschen darin unterstütze, zu für sie wesentlichen Themen in Dialog zu kommen, um das gesamte Potential ihrer Zusammenarbeit für Ihre Arbeit nutzen zu können. Vielleicht wollen sie einen schwelenden Konflikt klären, sich ein gemeinsames Führungsverständnis erarbeiten, eine neue Strategie entwickeln oder zu einer neuen Qualität der Kooperation finden, nachdem sie bisher eher nebeneinander, wenn nicht gar als Konkurrenten gegeneinander gearbeitet haben.

Dabei geht es nicht nur um Verhalten, sondern auch um berufliche Identitäten, Verständnis ihrer Rollen, ihre Interessen und Werte, die sie mitunter noch nicht einmal für sich selbst in dem Masse bewusst reflektiert haben, dass sie immer sofort fähig wären, diese in Worte zu fassen. Deshalb liegt vielen meiner moderierten Workshops und Konfliktklärungen ein Muster in Form von drei Grundschritten zugrunde, die der Vorbereitung eines Dialogs dienen: Zuhören, Resonanz in sich selbst wahrnehmen, Mitteilen. Diese drei Schritte lassen sich leicht benennen, können jedoch schnell übersprungen oder nicht genügend sorgfältig beachtet werden, wenn sich zu einem heissen Thema eine turbulente Gesprächsdynamik entwickelt.

  1. → Zuhören: Zum Beispiel wird eine neue Strategie präsentiert oder es wird die Wahrnehmung einer Verhaltensweise in einer bestimmten Situation mitgeteilt (Feedback).
  2. → Resonanz in sich selbst wahrnehmen: Innerer Dialog mit sich selbst wird unterstützt durch Selbstbefragung, z.B. "wie geht es mir persönlich mit dem, was ich gerade von der Geschäftsleitung zur neuen Strategie erfahren habe? Was spricht mich an, was irritiert mich, was stimmt mich nachdenklich ...?" oder: "Was löst das, was ich gerade als Rückmeldung erfahren habe, in mir aus?" Dieser innere Dialog kann auch durch nonverbale Methoden noch vertieft werden ("suche Dir ein Bild aus für das, wie es Dir gerade geht, oder ein Bild für das, was werden soll").
  3. → Mitteilen: Austausch zum eigenen Empfinden mit anderen Teilnehmenden der Veranstaltung, die ebenfalls gerade die Neuigkeiten erfahren haben: Gemeinsamkeiten und Unterschiede der inneren Resonanzen auf das Gehörte und Präsentation der wichtigsten Ergebnisse dieses Austauschs im Plenum.

 

Der letzte Schritt ist Auftakt für den ersten Schritt des nächsten Dreierschritts:

 

 

  1. → Zuhören: z. B. Präsentation der Resonanz der Mitarbeitenden auf die Strategie.
  2. → Resonanz in sich selbst wahrnehmen: Unterstützung des inneren Dialogs: "Wie geht es uns mit dem, was wir von unseren Mitarbeitenden als Resonanz erfahren haben: "Was freut uns, was erstaunt uns ...".
  3. → Mitteilen: Mitteilen der inneren Resonanz.

 

 

 

 

 

 


 

Wie berücksichtige ich das Feld?


Geschehen zwischen uns / in der Gruppe wahrnehmen: Ich erlaube mir und uns Momente der Stille, und sei es nur drei Atemzüge lang - um in den Zwischenräumen der Worte das Atmosphärische spür- und wahrnehmbar werden zu lassen. Sofern ich es als notwendig erachte, spreche ich aus, was ich wahrnehme, stelle damit meine Wahrnehmung allen anderen zur Verfügung und bin offen für die Resonanz, die ich damit auslöse. Jagt ein Wort das Andere oder lassen wir unterschiedliche Auffassungen würdevoll zu?
Was bewegt die Stilleren in der Gruppe? Stimmen sie zu, froh, dass andere mit ihren Worten schon zum Ausdruck gebracht haben, was sie auch empfinden oder verlässt sie der Mut angesichts der bisherigen Wortbeiträge, die so gar nicht zu ihrem Empfinden passen? Herrscht Wohlwollen und Interesse am Anderen vor oder ist die Stimmung kämpferisch?

Wichtig ist mir, dass ich darauf achte, dass ich jedem im Raum mit seinen/ihren Sichtweisen und Eigenheiten einen Platz geben kann, also unvoreingenommen begegne und nicht als störend erlebe, ansonsten kann ich nicht mehr das Feld - oder anders gesagt - den Beziehungsraum offen halten. Verschliesst sich der Beziehungsraum wird aus dem generativen Feld ein degeneratives Feld, das heisst, die nicht akzeptierten Kräfte werden nicht mehr konstruktiv genutzt sondern als lästige Widerstandsphänomene wahrgenommen. Aber was tun, wenn mich nun mal etwas stört?
 

Ein Beispiel: Es findet eine Videokonferenz in einem Raum statt, der optimal für diese Zwecke eingerichtet ist: Vor einem halbrunden Tisch, an dem sieben real Anwesende sitzen, ist ein grosser Bildschirm aufgebaut, der es erlaubt, die nur virtuell Anwesenden in Lebensgrösse an ihrem Tisch über tausend Kilometer entfernt sitzen zu sehen. Die Bild- und Tonqualität ist perfekt, fast scheint es, als ob uns nur eine Glasscheibe trennt. Jedoch lässt sich der Ton an- und abstellen und dies wird von denjenigen auf der anderen Seite der "Glasscheibe" genutzt, um einen umstrittenen Aspekt des Themas unter sich lebhaft zu diskutieren. Der Ton ist abgestellt, nur Mimik, Gestik und Lippenbewegungen lassen uns erahnen, dass Wichtiges emotional diskutiert wird.

Auf die Frage, worum es geht und ob wir auch teilhaben dürfen (unser Tonkanal ist offen), wird das Mikrofon wieder angeschaltet und es kommt die lapidare Antwort: "Nein nein, alles gut." Das genügt mir nicht. Ich frage nach, zeige Interesse, hake nach: "Was haben Sie denn gerade so offensichtlich lebhaft diskutiert? Ich nehme an, es ging um den Punkt, den wir eben besprochen haben. Darf ich wissen, was Sie hierzu noch so bewegt hat? Ich finde es wichtig, dass Sie dies in unsere gemeinsame Diskussion einbringen. Auch wenn alles gut ist." Daraufhin gibt sich eine der Angesprochenen einen Ruck und erzählt. Und was sie erzählt offenbart einen unterschwelligen Interessenskonflikt zwischen den Standorten: Optimieren wir unseren gemeinsamen standortübergreifenden Prozess, der Thema dieser Videokonferenz ist, oder sorgen wir erst einmal für schwarze Zahlen am Standort - zulasten der standortübergreifenden Zusammenarbeit?

Der Ort des Geschehens wirkt: Ebenso wie das aktuelle Geschehen zwischen den Anwesenden ist der Ort des Geschehens ebenfalls ein wichtiger Aspekt des Feldes. Deshalb achte ich auch auf die Wahl des Tagungsortes und des Raumes, in dem die gemeinsame Arbeit stattfinden soll: Natürlich ist solche eine Entscheidung auch immer ein Kompromiss. Der Anfahrtsweg darf nicht zu lang sein, die Kosten für die Miete des Raumes müssen vertretbar sein und das Wetter muss mitspielen, wenn Arbeit im Freien vorgesehen ist. Jedenfalls darf nicht blindlings ein von der Verwaltung zugewiesener Raum akzeptiert werden, wenn man nicht Lotterie mit solch einem wichtigen Einflussfaktor spielen will. Wichtig ist mir auch, dass ich genügend Zeit habe, mich mit dem Raum und der Umgebung vertraut zu machen und ihn so einzurichten, dass er nach meiner Erfahrung die Arbeit optimal unterstützt und nicht noch zusätzlich Kraft kostet.

Das oben genannte Beispiel zeigte, dass die vermeintlich kostengünstige Lösung einer Videokonferenz, die vom Auftraggeber bevorzugt wurde, den gemeinsamen Prozess nicht unterstützt hat. Manchmal muss man für einen guten Ort kämpfen und erst das Scheitern gibt einem genügend Argumente und Aufmerksamkeit, das nächste Mal sorgfältiger zu sein.

 

Dialog stirbt in dem Augenblick, in dem ich aufhöre, auf mich selbst zu hören, mich mit meiner Wahrheit zuzumuten, dem Anderen zuzuhören und mich seiner Wahrheit auszusetzen. Doch selbst, wenn all dies gewagt wird, laufe ich immer noch Gefahr, das Potential eines schöpferischen Dialogs nicht voll auszuschöpfen, wenn wir das Feld, das wir miteinander und in Wechselwirkung mit dem Ort unserer Begegnung erzeugen, ignorieren. Die Wirkung eines Feldes zeigt sich mir immer wieder dann, wenn ich zum Beispiel im Rahmen eines Workshops Menschen dazu einlade, sich zu einer bestimmten Fragestellung für eine halbe Stunde auf den Weg in die Umgebung zu begeben (am besten in einen nahegelegenen Park oder Wald) und sich im gemeinsamen Gehen zu der Frage auszutauschen. Die Rückmeldungen zu dieser Art des Dialogs sind durchweg positiv und die Ergebnisse sprechen für sich. Wir beschränken uns bei unserer kreativen Arbeit viel zu häufig auf Sitzungen zwischen vier Wänden und einer Decke, die uns vom Himmel trennt.


Ich möchte mit einem Zitat von Heinz von Förster und einem Gedicht von Rainer Maria Rilke schliessen:
 

Heinz von Förster, ein berühmter Physiker, Philosoph und Kybernetiker, hat einmal sehr schön beschrieben, was für ihn das Wesen eines lebendigen Dialogs ausmacht:

Was mich ergriffen hat, war diese Begeisterung und die Euphorie, mit der man hier diskutierte und das noch Unfertige gemeinsam zu Ende dachte. Es gab eine kreative das Verbindende betonende Dynamik und ein beständiges Fragen nach Zusammenhängen und den Möglichkeiten, ein Konzept oder eine Idee weiterzuentwickeln. Niemand hat sich mit diesem öden akademischen Ritual des Diskreditierens von anderen Auffassungen und Begriffen abgegeben. Was mich so begeisterte, war, dass diese Menschen nicht nur über Kybernetik, sondern auch miteinander sprachen, es war ein Fest der Verständigung und ein Geben und Nehmen, das immer die Integrität des anderen würdigte. [...] Die Anthropologin Margareth Mead [...] wachte über die Disziplin der Diskutanten. Wenn die Eitelkeit der Vortragenden überhand nahm, fuhr sie dazwischen: "Wir wissen, dass Du Griechisch kannst, aber bleibe bitte bei der Sache."[9]


Ingo Heyn

November 2019

 




Solang du Selbstgeworfnes fängst, ist alles
Geschicklichkeit und läßlicher Gewinn -;
erst wenn du plötzlich Fänger wirst des Balles,
den eine ewige Mit-Spielerin
dir zuwarf, deiner Mitte, in genau
gekonntem Schwung, in einem jener Bögen
aus Gottes großem Brücken-Bau:
erst dann ist Fangen-Können ein Vermögen, -
nicht deines, einer Welt. Und wenn du gar
zurückzuwerfen Kraft und Mut besäßest,
nein, wunderbarer: Mut und Kraft vergäßest
und schon geworfen hättest... (wie das Jahr
die Vögel wirft, die Wandervogelschwärme,
die eine ältre einer jungen Wärme
hinüberschleudert über Meere -) erst
in diesem Wagnis spielst du gültig mit.
Erleichterst dir den Wurf nicht mehr; erschwerst
dir ihn nicht mehr. Aus deinen Händen tritt
das Meteor und rast in seine Räume...

Rainer Maria Rilke

 

 



 


 

Literatur 
 

  • Gillighan, Stephen; Dilts, Robert B.: Die Heldenreise - Auf dem Weg zur Selbstentdeckung. Jungfermann-Verlag, 2013.
  • Lauterwasser, Alexander: Schwingung - Resonanz - Leben. AT Verlag 2015
  • Pörksen, Bernhard; Schulz von Thun, Friedemann: Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik. Hanser Verlag, 2020.
  • Rosa, Hartmut: Resonanz - Eine Soziologie der Weltbeziehung. 7. Auflage, 2017
  • Scharmer, C. Otto: Theorie U - Von der Zukunft her führen - Presencing als soziale Technik, Carl-Auer Verlag, 2009
  • Weber, Gunthard; Rosselet, Claude: Organisationsaufstellungen: Grundlagen, Settings, Anwendungsfelder, Carl Auer Verlag, 2016

 

 

 

 Fussnoten 


 

  1. http://de.wikipedia.org/wiki/Dialog
     
  2. siehe hierzu auch die P.S.I. Theorie nach Julius Kuhl, die ich hier erläutere: Wege zu der Quelle unserer intelligenten Intuition
     
  3. siehe hierzu auch: Storch, Maja; Kuhl, Julius: Die Kraft aus dem Selbst, 2. Auflage, 2013
     
  4. die Theorie U erläutere ich ausführlicher hier: Sinn. Auf der Suche nach dem verlorenen "Wozu"
     
  5. Gilligan, S.; Dilts, R.: Die Heldenreise. Auf dem Weg zur Selbstentdeckung. Jungfermann Verlag. 2013
     
  6. Schein, Edgar H., Organizational Culture and Leadership, 3rd Edition, Jossey Bass, San Francisco, 2004
     
  7. Weber, Gunthard; Rosselet, Claude: Organisationsaufstellungen: Grundlagen, Settings, Anwendungsfelder, Carl Auer Verlag, 2016
     
  8. Gilligan, S.; Dilts, R.: Die Heldenreise. Auf dem Weg zur Selbstentdeckung. Jungfermann Verlag. 2013, S. 150
     
  9. Foerster, Heinz von; Pörksen, Bernhard: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners: Gespräche für Skeptiker. Carl-Auer Verlag, 2013.