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Der Tanz mit dem Leben im Schatten unserer Visionen

 

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"Was tun Sie", wurde Herr K. gefragt, "wenn Sie einen Menschen lieben?"
"Ich mache einen Entwurf von ihm", sagte Herr K.,
"und sorge, dass er ihm ähnlich wird."
"Wer? Der Entwurf?"
"Nein", sagte Herr K., "der Mensch."

Bertolt Brecht

Der Mensch folgt der Erde.
Die Erde folgt dem Himmel.
Der Himmel folgt dem Weg.
Der Weg folgt seiner eigenen Natur.

Lao-Tse

 

 

 


In der Ferienzeit habe ich mich endlich einem Buch widmen können, das schon ein paar Wochen in meinem Bücherregal darauf wartete, gelesen zu werden: "Über die Wirksamkeit" von François Jullien[1]. Ich las es, wenn unsere drei kleinen Töchter es mir erlaubten - sei es, weil sie noch schliefen, sei es, weil sie miteinander in ihr Spiel vertieft waren und die Welt der Erwachsenen um sich herum ganz vergessen hatten.
 

Einmal beobachte ich meine Töchter bei ihrem Spiel und sehe, wie die Fünfjährige ihre Kunststücke an den Turnseilen macht, die wir ihr aufgehängt haben, weil sie doch so gerne einmal Artistin im Zirkus werden möchte. Sie übt und erfindet neue Kunststücke. Dann ruft sie hin und wieder: "Schaut mal!" und führt uns diese mit strahlenden Augen vor. Jede Vorführung beendet sie mit einer Verbeugung vor uns als ihrem ersten Publikum. Sie träumt davon, Artistin zu werden, sie verfolgt ein Ziel. Es ist ihr erster Zukunftsentwurf von sich selbst, abgesehen davon, dass sie einmal sechs Kinder haben will. Ganz anders die Zweijährige, ihre jüngere Schwester. Noch ganz bestimmt von den Reizen des Augenblicks sieht sie Schokolade und will Schokolade. Auf dem Weg zum Mittagessen erblickt sie das Bilderbuch und will das Bilderbuch anschauen. Sie beobachtet ihre ältere Schwester beim Turnen und will auch turnen. Die Ältere verteidigt ihre Turnseile, stößt die Jüngere von sich und ruft entnervt: "Geh weg! - ich muss üben, damit ich mal in den Zirkus kann". Die Kleine beginnt zu weinen, will wie so oft unbedingt das Gleiche haben und tun wie ihre Schwester. Es ist der augenblickliche Reiz, es ist noch kein Zukunftsentwurf ihrer selbst, der sie bewegt.
 

Falls die Ältere tatsächlich weiterhin ihren Traum vom Zirkus verfolgen will - welchen Weg wird sie einschlagen, welche Strategie wählen (das Wort kennt sie noch nicht)? Ich weiss es nicht, aber ich weiss, dass in dem Buch von François Jullien zwei grundsätzliche Strategien beschrieben werden, mit denen sie ihren Traum verfolgen kann. Und deshalb erwähne ich diese kleine Episode - weil in ihr schon vieles von dem enthalten ist, was der Autor als die wesentlichen Unterschiede zweier Denktraditionen beschreibt. Eine davon ist die westliche Denktradition, die der Wiege des modernen Denkens im antiken Griechenland entsprungen ist. Wie der Name schon vermuten lässt, hat diese sich vor allem im westlichen Kulturkreis verbreitet und wohl die meisten von uns geprägt. Die andere Denktradition hat ihren Ursprung im fernen Osten, in China vor ca. 3000 Jahren. Es handelt sich hierbei um den Taoismus, dessen wohl bekanntester Vertreter Lao-Tse ist.

Meine Tochter kennt nicht François Jullien, könnte sein Buch noch gar nicht lesen, geschweige denn verstehen - und doch steht sie vor der grundsätzlichen Herausforderung, vor der wir alle stehen und die in seinem Buch aus den Blickwinkeln dieser beiden Denktraditionen eindrücklich beleuchtet werden: Wie verfolge ich ein Ziel, wie nehme ich gestaltend auf die Welt, in der ich lebe, Einfluss? Welche Strategie wähle ich, um meine Ziele zu erreichen?
 

Die zwei grundsätzlich verschiedenen Möglichkeiten, ein Ziel zu verfolgen, sind an jenem Nachmittag im Garten unseres Ferienhauses schon zu erahnen: Da ist zum Einen das ausgelassene, kreative Spiel mit den Turnseilen, die offensichtliche Freude, die meine Tochter im Entdecken ihrer körperlichen Möglichkeiten am Seil erlebt. Es ist für mich beglückend zu sehen, wie sie von der Kraft des Schöpferischen, der Lust am Erfinden und Ausprobieren ergriffen ist und sich von ihr leiten lässt. Ein Leuchten in ihren Augen und ihr strahlendes Lächeln zeugen davon.

Aber da ist auch schon die Fähigkeit zur Frustration, zur Enttäuschung spürbar, wenn ihr etwas nicht gelingt, etwas in die Quere kommt wie ihre kleine Schwester, die unbedacht in die Seile greift und auch mitturnen will und keinen Sinn dafür hat, welches unliebsame Hindernis sie gerade für Ihre ältere Schwester auf dem Weg zur Zirkusartistin darstellt. Die Ältere stößt die Jüngere ärgerlich beiseite, bis diese weinend und Hilfe suchend zu mir läuft. Das ist die Kehrseite der Zielgerichtetheit, der Schatten ihrer Vision: In dem Moment, in dem sie sich auf etwas fokussiert, es zum Ziel ihres Handelns erklärt, es heraushebt aus all den anderen Möglichkeiten des Werdens, wird all das zur Störung, was sie in ihrer Wahrnehmung auf ihrem Weg zum Ziel aufhält - oder wird zumindest unwichtig, rückt in den Hintergrund, wenn es für das ersehnte Ziel ihrer Bemühungen nicht nützlich ist.

 

Das westliche Denken 

Laut François Jullien ist die moderne westliche Denkart, die uns tief geprägt hat und der wir deshalb kaum entrinnen können, folgende: wir machen uns einen Entwurf dessen, wie die Welt sein soll, beschreiben ein Ziel, das wir gerne erreichen wollen, und entwerfen dann einen Weg, einen Plan, eine Strategie, wie wir dorthin kommen. Er schreibt:

" ... alle machen das Gleiche, der Revolutionär entwirft das Modell des zu schaffenden Gemeinwesens, der General den Plan zur Kriegführung, die Wirtschaftswissenschaftler die Kurve des zu realisierenden Wachstums ... So viele auf die Welt projizierte Schemata und Idealitätsschablonen, die man dann in die Wirklichkeit umsetzen muss. Aber was heißt hier "umsetzen", wenn man es in der Wirklichkeit machen will? Zunächst würde der Verstand "mit dem Blick auf das Beste" etwas konzipieren; dann würde er sich mit einem Willen ausstatten, um dieses Modell der Wirklichkeit aufzuzwingen. Aufzwingen, das heißt: überstülpen, sozusagen durchpausen, aber auch mit Gewalt durchsetzen." (S. 15)

Diese Spaltung der Welt in die Sphäre der vollkommenen Formen, Ideen und Ideale auf der einen Seite und die Sphäre der Praxis, also der materiellen Welt mit all ihrer Unvollkommenheit, hat im antiken Griechenland spätestens vor ca 2500 Jahren mit Platon und Aristoteles, zwei der wohl berühmtesten Denker dieser Zeit, ihren Ursprung genommen. übersetzt in alltägliches Erleben bedeutet das für mich nichts anderes als beispielsweise folgendes: Ich wünsche mir einen vollkommenen Apfel und halte einen schrumpeligen, fleckigen, mit Wurmlöchern verzierten Apfel in der Hand. Ich werfe ihn fort oder beiße unzufrieden in ihn hinein. Meine Tochter entwirft für sich eine Zukunft als Zirkusartistin und stößt ärgerlich Hindernisse auf dem Weg zu ihrem Ziel beiseite.

 

Die defizitorientierte Haltung 

Diese Art zu denken, diese Haltung gegenüber der Welt, die wir ständig mit unseren Vorstellungen, wie sie sein sollte, vergleichen und der wir entsprechend unseren Willen aufzuzwingen versuchen, ist die Grundlage für jegliches defizitorientierte Denken. Mit defizitorientiertem Denken ist folgendes gemeint: Ich vergleiche den wurmstichigen Apfel in meiner Hand mit dem mentalen Bild eines idealen Apfels, stelle mehrere Unterschiede fest und bewerte den real existierenden Apfel in meiner Hand als mangelhaft. Das ist defizitorientiertes Denken: Das magersüchtige Mädchen stellt sich vor den Spiegel, vergleicht ihr Spiegelbild mit ihrer Idealform, stellt also einen Ist-Soll-Vergleich an, der in der Regel zu ihren Ungunsten ausfällt, diagnostiziert mit Unmut ein Defizit, das es zu beseitigen gilt. Die Strategie ist: noch mehr Sport, noch mehr hungern.

Das mangel- oder defizitorientierte Denken ist der Schatten unserer Vision: Je größer und ferner die zukünftige Vision unserer gewünschten Wirklichkeit, desto dunkler und länger ihr Schatten, den sie auf uns, die wir in der Gegenwart leben, wirft. Der Schatten verdunkelt und vergällt uns jeden kostbaren Augenblick unseres Lebens, in dem wir das was gerade ist, mäkelnd mit unseren Vorstellungen, wie etwas zu sein hat, vergleichen und eine mehr oder weniger miserable Note ausstellen.

Es lässt sich nun unschwer erkennen, wie sehr die oben beschriebene Spaltung der Welt in die ideale und die tatsächliche Wirklichkeit, die laut François Jullien so sehr unser modernes Denken prägt, ein nicht zu unterschätzendes Gewaltpotential in sich birgt - sie ist der Boden für Gewalt. Denn wo die eigene Ideologie die Möglichkeit einer besseren Welt aufscheinen lässt, liegt die Idee nicht fern, die Abkürzung zu suchen, indem das vermeintlich Gute, zum Beispiel eine neue gesellschaftliche Ordnung, mit Gewalt durchgesetzt wird. Heißt das, die einzige Alternative zur Gewalt ist, in eine Lethargie zu verfallen, in dem ich mich einfach mit allem abfinde was ist, ohne noch irgendeine Vorstellung davon zu entwickeln, wie die Welt besser sein könnte?

 

Nein. Zur Erinnerung: Die westliche Denkart lautet: mach dir einen (Zukunfts-)Entwurf, setze dir ein Ziel, entwickle eine Strategie und setze diesen Entwurf entsprechend deiner Strategie in die Wirklichkeit um.

 

Die fernöstliche Denktradition des Taoismus 

Eine Alternative hierzu ist die fernöstliche Denktradition des Taoismus: Nimm wahr, was das Potential des gegenwärtigen Augenblicks ist, und fördere jenes, das deinen Interessen dient. Die taoistische Haltung entspricht der eines geduldigen Gärtners, der sich vor allem im Schauen, Wahrnehmen und Nicht-Handeln übt, um dann im rechten Augenblick jene Samen, die er in der Erde aufgespürt hat, zu Wachstum und Blüte zu verhelfen. Er drängt der Erde nicht seinen Willen auf, sondern wendet sich ihr mit wachem Geist zu. Seine Sinne sind nicht verengt durch eine fixe Vorstellung, wie der Garten auszusehen hat. Er mag das Interesse haben, den Garten entsprechend seinem Sinn für Ästhetik und Harmonie zu gestalten, aber hat keinesfalls einen detaillierten Plan im Kopf. Da der taoistische Gärtner keinen Ist-Soll-Vergleich anhand eigener detaillierter Zielvorstellungen vornimmt, sondern sich fördernd dem widmet was ist, nimmt er eine ressourcenorientierte Haltung ein. Was heißt das?

 

Die ressourcenorientierte Haltung 

Der Gärtner vertraut auf die dem Garten innewohnende Kraft und fördert ihre Entfaltung. Er weiss, dass nur jenes Kraft in sich birgt, das als Potential schon vorhanden ist. Er weiss, dass nur das wachsen kann, was als Same vorhanden ist. Er weiss um die Vergeblichkeit, der gelb blühenden Rose Vorhaltungen zu machen, dass sie nicht rot blüht. Darum übt er sich in der Wahrnehmung dessen, was der Augenblick an Möglichkeiten birgt. Diese Haltung ist dadurch möglich, dass es im Taoismus nicht wie in unserer heutigen westlichen Kultur die Vorstellung eines individuellen Subjekts gibt, das von seiner Umwelt abgetrennt ist und nun mit einem Willen auf diese einwirkt. Vielmehr wird der handelnde Mensch als Teil des Weges gesehen: der WEG, das TAO, das sich unablässig als Wechselspiel der Polaritäten aus dem ungeteilten Ganzen entfaltet. Durch die fehlende Abspaltung des Menschen von seiner Umwelt und die fehlende Aufteilung der Welt in die Welt der idealen Formen ("Sein") und die Welt der Erscheinungen ("Schein") gibt es keinen Grund für die Vertreter des Taoismus, sich unabhängig von dem was ist, eine ideale Welt vorzustellen, die es nun gilt, der realen Welt aufzuzwingen. Es geht vielmehr darum, sich in harmonischer Weise das zu Nutze zu machen, was als Potential in einer Situation gegeben ist. Das ist ressourcen-orientiertes Denken in Reinform.
Der taoistische Gärtner vergleicht nicht das Vorgefundene mit einem gedachten Ideal sondern prüft das Vorgefundene auf sein Potential und fördert es entsprechend seiner Absicht. François Jullien schreibt hierzu:

Das älteste chinesische Werk (das I Ging oder Buch der Wandlungen), das auf der Grundlage von zwei Strichlinien konstruiert ist (ein durchgezogener und ein unterbrochener Strich), die die beiden Pole jedes Prozesses darstellen, zeigt die Realität unter dem Aspekt einer kontinuierlichen Transformation: durch die einfache fortgesetzte Vertauschung der beiden Striche in einer Reihe von Diagrammen verwandeln sich die Figuren ineinander, und der Weise lernt durch Befragung, das Feld der Kräfte einzuschätzen, die vorhanden sind, und das Situationspotential bilden. Nicht, um daraus einen Gegenstand der reinen Betrachtung zu machen, sondern um sein Verhalten ständig der Entwicklung der Dinge in Einklang zu bringen. In China ist die Wirksamkeit, man muss es wiederholen, eine Wirksamkeit durch Anpassung.(S. 77)

Nach dem die werdende Zirkusartistin keinen Erfolg mit dem Zurückstoßen der Kleineren hat, das Geschrei und das kindliche Handgemenge rund um die Turnseile den Stress aller Beteiligten und mir als bisher wohlwollendem Beobachter allmählich unerträglich werden lässt, stehe auch ich vor einer Herausforderung: soll ich nach westlichem Denkmuster eine heroische Tat begehen, d. h. intervenieren, also dazwischen schreiten, ein Machtwort sprechen oder der taoistischen Tradition folgend das Potential der Situation nutzen?
Und was könnte das jetzt bedeuten? Was tun? Soll ich überhaupt was tun? Während ich noch sinniere hat die Ältere schon ihre Strategie gewechselt. Sie klettert den Stützpfeiler des Schaukelgerüsts, an dem die Turnseile befestigt sind, hinauf und erkennt darin eine neues Kunststück, das sie auf ihrem Weg zur Zirkusartistin weiterbringen wird und das gleichzeitig für ihre kleinere Schwester derzeit unnachahmlich ist. Sie hat das Potential der Situation genutzt. Lachend schaut sie auf ihre kleinere Schwester hinab, die nun vergeblich versucht, ihr nachzuklettern.

 

Der Held des Westens und das Wasser des Ostens 

François Jullien betont den grundsätzlichen Unterschied zwischen dem westlichen Denken und dem Taoismus: Im Westen ist die Idee eines von seiner Umwelt abgetrennten Individuums am weitesten entwickelt. Herausgelöst aus dem Strom des Lebens und ausgestattet mit einem freien Willen setzt das Individuum diesen Willen mehr oder weniger klug ein, um eigene Ziele zu verwirklichen und seinen Willen dem Rest der Welt aufzuzwingen. Odysseus gilt als ein früher Vertreter dieses Heldentums. Die Sehnsucht nach dem rettenden Helden ist auch heute noch ungebrochen - erkennbar zum Beispiel daran, dass in der Wirtschaft immer mal wieder der Supermanager gesucht wird, der mutig das Ruder herumreißt, um ein marodes Unternehmen auf Erfolgskurs zu bringen[2]. Gurus und Erlöser haben Hochkonjunktur in solch einem Klima. Ein eindrückliches Beispiel für den ungebrochenen Heldenmythos in der Politik ist für mich George Bush, der sich am 1. Mai 2003 ein paar Wochen nach der Invasion im Irak in martialischer Aufmachung auf einem Kriegsschiff zeigt und "Mission Accomplished" ("Mission erfüllt") verkündet, sich also ganz klassisch als Held inszeniert, der mutig dem Bösen entgegengetreten ist und nun mit seiner Heldentat das Gute in der Welt gemehrt hat. Vier Jahre später zeigt sich in Form eines nicht enden wollenden Bürgerkriegs im Irak das ganze Desaster solch einer naiven Strategie, die auf einer schlichten Spaltung der Welt in Gut und Böse und einem heroischen Machbarkeitswahn beruht.

Dieser Heldenmythos wird mit der Vorstellung eines Weltenlenkers, eines personifizierten Gottes, auf die Spitze getrieben. Der Taoismus hat nie solch eine Gottesvorstellung entwickelt. Im fernöstlichen Taoismus wird gar nicht in diesen Kategorien gedacht. Zentrales Motiv ist nicht der Held, der Erlöser, der die Welt rettet, sondern der WEG, das TAO, das den Prozess des ewigen Wechselspiels der Polaritäten von Yin und Yang bezeichnet. Alles ist Teil dieses schöpferischen Prozesses, der sich ständig neu aus dem ungeteilten Ganzen ergibt. Sinnbild für den WEG, das TAO, ist das Motiv des Wassers. Das Wasser wird als das Bild für die richtige Strategie verwendet, um unsere Absichten erfolgreich zu verfolgen:

Das Wasser hat von sich aus keine Form: es passt sich unaufhörlich an, es entwickelt sich, in dem es sich anpasst, und gerade weil es sich anpasst, ist es dazu geneigt, voranzukommen. ... Die Form des Wassers ist nicht im Wasser, sondern beruht auf der Bodengestalt. Ebenso ist das "Potential" nicht in mir, sondern kommt von meinem Gegner. Oder vielmehr, wenn es nicht in mir ist (da ich mich sonst erschöpfen würde) so ist es genau genommen auch nicht in ihm, sondern ich beziehe es aus ihm. Das Potential ist also keine Angelegenheit von Kräften, die aufeinanderprallen, und von denen jeder von uns seine eigene hätte, sondern es ist das Potential der Situation. Es enthält die Möglichkeit, die es eröffnet, so wie das Gefälle das Wasser fließen lässt. Und man nutzt es, so wie es das Wasser macht, in dem man es versteht, mit ihm zu fließen. (S. 234-235)

Das Wasser - weil selbst formlos - umspielt in vollendeter Eleganz die Formen, die es auf seinem Weg vorfindet. Es passt sich nahtlos dem gegebenen Gelände an. So gräbt und formt es entsprechend seiner eigenen Natur geduldig sein eigenes Flussbett und vermag auf Dauer sogar Steine und Felsen glatt zu schleifen oder gar mit sich zu reißen und aufzulösen. Deshalb ist die Geschmeidigkeit und Schwäche die Stärke des Wassers, mit dem das Harte bezwungen wird.

Ja aber! Ist dies nicht ein Lob der chamäleonhaften, konfliktscheuen Anpassung - ein Plädoyer für die Konturlosigkeit?
Nein. Ist es definitiv nicht. Denn auch das Wasser verfolgt durchaus eine Absicht: Es folgt seiner Neigung und sammelt sich am tiefsten Punkt. Dort vereint es alle Rinnsale, Bäche und Flüsse, wird zum Meer und entfaltet auf diese Weise eine Wirkkraft, die kein Mensch mehr zu unterdrücken vermag. Das Bild drückt die Kraft aus, die sich entfaltet, wenn man mit dem, was man verändern und gestalten will, zunächst ganz und gar in Kontakt geht, es vollständig umfließt und wahrnimmt, um es dann umso kraftvoller zu gestalten. Etwas muss erst angenommen werden, damit es sich verändern kann.

 

Im Zweifelsfall: Lass den Plan und nicht die Menschen fallen 

Nicht nur in der Erziehung meiner Kinder sondern auch in meiner beruflichen Arbeit mit Menschen ist für mich diese taoistische Strategie des Fliessens mit dem Gegebenen ganz wesentlich. Ich leite unter anderem Seminare für Führungskräfte und begleite Veränderungsprozesse in Unternehmen. Trotz einer gründlichen Auftragsklärung und konzeptionellen Planung ist jede Arbeit mit einer Gruppe immer wieder ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Die Gruppendynamik und der Grad an Bereitschaft der Beteiligten, sich wirklich mit wesentlichen und persönlichen Sichtweisen und Fragen einzubringen, ist schlichtweg nicht vorhersagbar. Exakte Planung führt wahrscheinlich in die Irre. Ich muss offen bleiben für das Unbekannte. Insofern ist für mich der Weg des Wassers ("Fließe mit dem Gegebenen in jedem Augenblick, da es sich dir offenbart!") absolut notwendig. Es wäre fatal, wenn ich nicht immer wieder überprüfen würde, ob der vorbereitete grobe Plan tatsächlich zu dem passt, was in der Gruppe an Dynamik, Energie und Interessen gerade vorhanden ist. Hier gilt für mich das Prinzip: "Lieber lasse ich meinen noch so gut durchdachten Plan fallen, als die Menschen, mit denen ich arbeite." Wie wichtig dieses Prinzip ist erfahre ich vor allem dann, wenn ich doch mal wieder in die Enge meiner eigenen Pläne und Vorstellungen zurückfalle und auf diese Weise das Potential des Augenblicks verpasse. Glücklicherweise erlebe ich aber auch, wie wirkungsvoll und erfüllend meine Arbeit wird, wenn ich eigene Pläne und Vorstellungen ruhen lasse und mich in der Moderation einer Gruppe ganz in den Dienst des gemeinsamen Prozesses stelle, der sich entfalten mag. Für mich ist hier die Intelligenz des Wassers, die Lao Tse anpreist, ein leitendes Prinzip.

 

Milton Erickson - Ein Meister der Kommunikation 

Milton Erickson, ein amerikanischer Psychiater und Psychotherapeut, der die moderne Hypnotherapie ganz wesentlich mitgeprägt hat, war ein unübertroffener Meister in der Kunst, sich zunächst ganz auf einen Menschen einzustimmen und mit ihm in Kontakt zu treten. Dieses Bestreben, sich in der Kommunikation seinen Klienten wie das Wasser dem Flussbett anzupassen, ermöglichte ihm, mit den unterschiedlichsten Menschen erfolgreiche Psychotherapien durchzuführen. Aufgrund dieser taoistischen Strategie wundert es mich nicht, dass eine ganz wesentliche Grundlage seiner Arbeitsweise die konsequente Ressourcenorientierung gewesen ist, die ihm erlaubte, auch die befremdlichsten "Störungen" und psychiatrischen Symptome noch als einen Versuch des Unbewussten zu würdigen, das psychische Gleichgewicht des Klienten aufrechtzuerhalten. Zentraler Fokus seiner Arbeit war, jenseits der begrenzten Denkschablonen des Alltagsbewusstseins das schöpferische Unbewusste dazu einzuladen, neue Lösungen zu entwickeln, die sowohl für den Klienten als auch für seine Umgebung die Lebensqualität erhöhte. Er ist in diesem Sinne für mich ein herausragender Therapeut, der in seiner Arbeit und in seinem Lebenswerk eine taoistische Grundhaltung eingenommen hat. Wenn man seine einzigartige Biografie kennt, tritt diese Grundhaltung noch deutlicher zu Tage: Er erkrankte zweimal in seinem Leben an Kinderlähmung, hatte diverse andere körperliche Gebrechen und hörte als Kind, wie ein behandelnder Arzt zu seiner Mutter sagte: "Er wird die Nacht nicht überleben", worauf hin der kranke Junge all seine Kräfte mobilisierte, um den nächsten Sonnenaufgang zu erleben. Milton Erickson, der dreimal in seinem Leben laufen lernen musste, schulte sich in der Überwindung seiner körperlichen Einschränkungen konsequent darin, mit seinem eigenen Unbewussten ressourcenorientiert zu arbeiten und schuf damit die Grundlage für seine spätere Arbeit mit Menschen[3].

 

Die Kraft des vorbehaltlosen Mitfühlens 

Darin liegt also eine Kraft: So wie das Wasser seine Kraft entfaltet, in dem es sich in das Flussbett formlos einfügt und es dadurch entsprechend seiner Natur prägt - also ohne eigene sperrige Vorstellungen, wie das Flussbett zu sein hat - so liegt eine stille gewaltige Kraft darin, sich ganz dem anderen zuzuwenden, bereit zu sein, vorübergehend seine Form, also seine Sicht der Wirklichkeit anzunehmen. Ich bin immer wieder von Neuem beeindruckt, mit welcher Kraft allein wirkliches Mitfühlen verhärtete Fronten wieder zum Schmelzen bringen kann und die Beziehung zu einem Menschen wieder eine fließende Qualität bekommen lässt. Bemerkenswert finde ich, dass die fernöstliche Strategie des "Mitfließens" ihren Ursprung in militärischen Überlegungen hat, und zwar ausgehend von der Frage: Wie kann gesiegt werden, ohne zu kämpfen?

Inzwischen ist es für die Kinder Zeit, ins Bett zu gehen. Wie so oft sind sie anderer Meinung. Die werdende Zirkusartistin hätte gerne noch ein weiteres Kunststück ausprobiert. Aber dafür ist es jetzt zu spät. Sie nörgelt, sie jammert, sie bockt, sie wirft sich trotzig auf ihr Bett und vergräbt ihren Kopf. Eine Weile lasse ich sie, dann nehme ich sie auf den Arm, was sie nur widerstrebend zulässt. Sie weint. "Jetzt wärst du gerne noch mal raus gesprungen in den Garten." - "Ja!" - "Um Kunststücke zu üben." - "Ja!" - "Weil du mal in den Zirkus willst." - "Ja!" - "Morgen wieder. So, wer darf zuerst Zähne putzen?" - "Ich!" - Sie lässt sich hastig von meinem Arm gleiten und rennt ins Badezimmer. Sie folgt ihrer Neigung, auf jeden Fall die Erste sein zu wollen. Sie hat es geschafft. Mit Genugtuung hält sie ihre Zahnbürste bereits in der Hand, als die Jüngere, die so gerne das Gleiche macht wie ihre Schwester, im Badezimmer ankommt und nun auch Zähne putzen will.

 

Der eigenen Neigung folgen 

So wie das Wasser seiner Neigung folgt und darin seine ganze Wirkkraft mit der Zeit entfaltet, so entfalten auch wir unsere Kraft, in dem wir unserer naturgegebenen Neigung folgen. Das kann ich nur, wenn ich ein ungebrochenes Vertrauen und ein "Ja" zu mir und dem Leben habe und mitfühlend mit meiner Umwelt verbunden bin. In diesem Sinne verstehe ich folgende Zeilen von Lao-Tse:


Der Weg ist groß.
Der Himmel ist groß.
Die Erde ist groß.
Und auch der Mensch ist groß.

Der Mensch folgt der Erde.
Die Erde folgt dem Himmel.
Der Himmel folgt dem Weg.
Der Weg folgt seiner eigenen Natur.


Ein Problem habe ich und/oder meine Umwelt nur, wenn ich nicht fühlend mit mir und meiner Umwelt verbunden bin - also abgespalten bin vom WEG, dem TAO. Dann sind meine Ziele und Absichten rein mentale Konstruktionen ("Kopfgeburten"), die so fruchtbar sind wie abgebrochene Äste, die nicht mehr vom Lebenssaft des Einen Baumstammes zehren. Dann laufe ich Gefahr, dass meine menschlichen Bedürfnisse einen Ausdruck finden, der nicht mehr den Wert des anderen achtet.

 

Die westliche Denktradition ist schlecht - die taoistische Denktradition ist gut? 

Ist das der Schluss? Für mich keineswegs. Absichten, Ziele und visionäre Zukunftsentwürfe, die unser Handeln leiten, gehören für mich unabdingbar zu einem selbst verantworteten Leben, in dem ich mich nicht nur wie willenloses Treibholz auf dem Strom des Lebens dahin treiben lasse, sondern entsprechend meiner Werte mitwirke im schöpferischen Prozess - oder zutreffender gesagt: die schöpferische Kraft des Lebens auch durch mich wirken lasse. Wichtig ist für mich, dass wir unsere mentale und visionäre Kraft in den Dienst einer gemeinsamen Zukunft stellen - und das gelingt uns nur, wenn wir verbunden bleiben mit dem einen WEG, dem TAO. Und ob ich verbunden bin, merke ich persönlich zum Beispiel daran, wenn ich mich trotz einer festen Absicht (um acht sollen die Kinder im Bett sein!) ohne all zu grossen Hader vom Wellengang des Augenblicks schaukeln lassen kann (Die Kleine hat sich mit Zahnpasta voll geschmiert und muss jetzt noch mal einen frischen Pyjama anziehen). Im besseren Fall kann ich ihn genießen und werde von ihm inspiriert (meine Tochter hat mir mit der kreativen Verwendung der Zahnpasta ein Beispiel für dieses Essay geliefert).

 

Den Tanz mit dem Leben wagen 

Woher aber weiss ich, was das TAO ist, wie unterscheide ich zwischen dem TAO - also dem WEG im fernöstlichen Sinne- und meinen selbst konstruierten mentalen Zielen, deren Umsetzung kraftlos bleibt, weil sie Gedankenspiele sind, die nicht dem Prozess, dem WEG entsprechen?
In dem ich fühlend in Kontakt bin mit mir und der Welt, offen bin für Intuition und Impulse, und mich nicht durch Angst und Vorstellungen, was zu sein hat, der Wahrnehmung des Unerwarteten verschließe. Diese Notwendigkeit des offenherzigen Fühlens als Grundvoraussetzung für Orientierung im eigenen Leben hat auch der Existenzanalytiker Alfried Längle betont. Er hat in einem Aufsatz, den ich in meinem letzten Essay "Warum Nacktschnecken so selten nach dem Sinn des Lebens fragen"[4] vorgestellt habe, überzeugend dargelegt, dass persönliches Wertempfinden nur gefühlt und entdeckt jedoch niemals "von aussen" installiert werden kann. Nicht nur Werte, auch kraftvolle Absichten und Impulse kann ich nur fühlend in mir entdecken. Sie sind für mich Ausdruck des WEGES, des TAO.

Es ist für mich vor allem eine Frage des Vertrauens: Vertraue ich dem Fluss des Lebens, vertraue ich darauf, dass alles, was es für ein gutes Gelingen braucht, in mir, in den anderen, in der Situation vorhanden ist und deshalb in seiner Entfaltung nur gefördert werden muss, oder meine ich, eigene Vorstellungen und Ziele der Wirklichkeit aufzwingen zu müssen? Meine Erfahrung ist diese: Wenn ich vertraue, dann bin ich offen. Wenn ich offen bin, nehme ich wahr. Wenn ich wahr nehme, spüre ich, worin Kraft liegt und was sich leer und kraftlos anfühlt. Wenn ich dies spüre und der Kraft folge, wird es leicht, fließend und spielerisch. Ein Tanz mit den Kräften des Lebens wird möglich.

Ich wünsche meiner Tochter, dass sie sich - unabhängig davon, ob sie tatsächlich den Weg zur Zirkusartistin weiterhin verfolgen will oder nicht - ihr spielerisch-schöpferisches Wesen bewahrt und weiterhin ihrer ganz eigenen Neigung folgend mit dem Leben tanzt. Das wünsche ich uns allen.


Ingo Heyn

September 2007


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 Fussnoten 


 

  1. François Jullien, Über die Wirksamkeit, Merve Verlag Berlin, 1999. Der Autor ist ein zeitgenössischer französischer Philosoph, der mehrere Jahre in Ostasien lebte und lehrte und seit über zwanzig Jahren eine Professur an der Universität von Paris inne hat.
     
  2. Zu diesem Thema ist ein interessantes Interview mit dem Schweizer Therapeuten Gerhard Dammann in der Zeitschrift Der Spiegel Nr. 38 vom 17.09.2007 erschienen: "Narzissten in den Chefetagen: Ich bin größer als du!"
     
  3. Siehe zum Beispiel: Jay Haley: Die Psychotherapie Milton H. Ericksons, Verlag J. Pfeiffer, 1978 und Sidney Rosen: Die Lehrgeschichten von Milton H. Erickson, ISKO PRESS, 1985
     
  4. Siehe hierzu auch meinen letzten Essay Nr. 3: Warum Nacktschnecken so selten nach dem Sinn des Lebens fragen