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Ich bin ein Schulkind!

 

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Man könnte vielleicht sagen, dass Albert Schweitzer und andere Leute seines seltenen Formats selbstlos sind. Ich verstehe diese Idee und denke, dass sie etwas für sich hat, aber auf der anderen Seite habe ich ja so argumentiert [...], dass ein Mensch, je großherziger er ist, ein desto größeres - nicht kleineres! - Selbst beziehungsweise eine desto größere Seele hat. Ich würde also sagen, dass die, die uns so selbstlos vorkommen, in Wahrheit sehr seelenvoll sind - das heißt, sie beherbergen in ihrem eigenen Geist, in ihrem eigenen Schädel/Gehirn/Bewusstsein/ihrer eigenen Seele, viele andere Seelen -, und ich glaube, dass dieses Teilen von Bewusstseinsraum ihr Innerstes nicht verkleinert, sondern vergrößert und bereichert.


Douglas Hofstadter,
aus "Ich bin eine seltsame Schleife"

 


 

 


 

"Ich bin ein Schulkind!" Kaum dass meine Tochter ihre Augen geöffnet hatte, verkündete sie am Tag ihrer Einschulung ihre neue Identität mit einer beeindruckenden Gewissheit, die keinen Zweifel zuliess. Es war ein Augenblick, in dem ich so deutlich wie nie zuvor den selbstbewussten Identitäts- und Wachstumsschub eines jungen Ichs erleben durfte. Schlagartig wurde ich an meine eigene Wandlung zu einem Schulkind erinnert, das sich vor vielen Jahren stolz auf einen Schwarz-Weiss-Film bannen liess.
 

Einige Wochen des ungeduldigen Wartens auf den Schulbeginn hatte meine Tochter schon ertragen müssen und jetzt war es endlich so weit. Und doch - die erste Enttäuschung nach einer gelungenen Begrüßungszeremonie in ihrer neuen (Schul-)Welt liess nicht lange auf sich warten. Ganz enttäuscht war sie, dass es am ersten Tag noch keine Hausaufgaben gab. Offensichtlich wusste sie schon, dass mit ihrer neuen Rolle auch neue Aufgaben verbunden sind, und sie brannte darauf, diese zu erfüllen, ihre neue Identität zu leben, so wie sie auch schon stolz ihren neuen Schulteck, wie wir hier in der Schweiz zum Schulranzen sagen, auf ihrem Rücken trug.
 

Dieses Identitätsgefühl, diese seltsame Gewissheit, wer ich bin, die zumindest solange währt bis ich direkt den Strahl meines Bewusstseins darauf richte, ist eines der Rätsel, das mich immer wieder fasziniert. Douglas Hofstadter, den ich schon in meinem letzten Essay erwähnt habe, beschäftigt sich mit solchen Fragen und kommt zu einer anderen Erkenntnis als meine Tochter: Er ruft nicht aus: "Ich bin ein Schulkind!" sondern: "Ich bin eine seltsame Schleife". So hat er sein jüngstes Buch genannt[1]. Er hätte ja auch schreiben können: "Ich bin ein Universitätsprofessor!", was laut Klappentext des Buches ebenfalls zutrifft. Warum also "Ich bin eine seltsame Schleife"?
 

Um diese zweite Kernaussage seines Buches zu erläutern (die erste habe ich im letzten Essay "Kurt Gödel und der Zauber des blinden Flecks"[2] vorgestellt), verwendet er die Metapher einer Videokamera, die mit einem Fernsehgerät verbunden ist und auf den Bildschirm gerichtet ist. Wer mit so etwas schon herumgespielt hat, weiss, dass sofort seltsam verschachtelte Korridore und wabernde Lichtphänomene auf dem Bildschirm auftauchen, die das visuelle Ergebnis einer Endlos-Schleife sind. Je nach Lichtverhältnissen, verwendeten Geräten und Winkel, mit dem die Kamera auf den Bildschirm gerichtet ist, ändern sich diese Effekte. Mitunter hat man den Eindruck, einen Blick in die Unendlichkeit erhaschen zu können. Was man auf diese Weise zu sehen bekommt, ist zwar eine durchaus interessante, aber noch keine seltsame Schleife[3]. Es wird ein Kreis geschlossen zwischen filmender Videokamera und Bildschirm.
 

Für diesen Kreis gibt es übrigens ein uraltes archaisches Symbol: die sich selbst verzehrende Schlange Ouroboros - ein Zeichen dafür, dass Menschen vermutlich schon seit dem ersten Erwachen ihres Selbstbewusstseins vom Geheimnis der "Rückbezüglichkeit", um die es sich bei unserem simplen Experiment mit der Videokamera handelt, fasziniert sind. Hier eine Zeichnung des Alchimisten Theodoros Pelecanos aus dem Jahre 1478:
 

 


 

Das "Ich"-sagende Bewusstsein, das sich selbst in den Fokus seiner Aufmerksamkeit rückt, macht etwas mehr als die Kamera, die nur Lichtsignale in elektronische Ladungen umwandelt und weiterleitet bis sie auf dem Bildschirm wieder in Lichtpunkte verwandelt werden: unser Ich denkt, interpretiert, bewertet, kategorisiert, abstrahiert, filtert das Wahrgenommene und erhöht somit die Komplexität des Wahrnehmungsprozesses beträchtlich. Unser Ich nimmt nicht nur wahr, sondern entscheidet auch, was es für wahr halten will. So glauben vermutlich mehr Menschen daran, dass es den Präsidentschaftskandidaten Barack Obama wirklich gibt, als solche, die von der Existenz des Seeungeheuers von Loch Ness überzeugt sind - auch wenn sie beiden noch nicht leibhaftig begegnet sind.

Für Hofstadter ist einer der wesentlichen Unterschiede zwischen einer rein technischen "seelenlosen" Feedback-Schleife (Videokamera-Bildschirm-Videokamera-...) und einer "Ich" sagenden seltsamen Schleife die Fähigkeit der letzteren, die Welt symbolisch abzubilden, sich also eine mentale Landkarte der Welt zu konstruieren. Während beispielsweise die Videokamera Bildpunkt für Bildpunkt "brav" in einen elektrischen Impuls verwandelt und die Auflösung des aufgenommenen Bildes nur durch die Anzahl von physikalischen Fotozellen bestimmt ist, die die Ingenieure ihr zugestanden haben, schaue ich auf den Bildschirm und sage später beispielsweise: "Ich habe einen in sich verschachtelten Korridor mit einem wabernden Lichtpunkt in der Mitte gesehen." Das Bild eines verschachtelten Korridors, das beim Lesen dieser Worte vor Ihrem inneren Auge vielleicht auftaucht, hat vermutlich nur sehr wenig Ähnlichkeit mit der Anordnung von Bildpunkten auf dem Bildschirm, die ich als verschachtelter Korridor bezeichnet habe. Mit Sicherheit stimmt kein einziger Bildpunkt überein, zumal wir ohnehin unsere inneren Bildern nicht in Pixel darstellen. Aber darum geht es auch gar nicht. Es geht darum, dass uns die Umwandlung der ständig auf uns einströmenden Informationsflut in handhabbare Symbole überhaupt erst schnelle Denkprozesse und Kommunikation ermöglicht - natürlich zu dem Preis, dass einige Details auf der Strecke bleiben.

 

Das Ich - Die Mutter aller Symbole 
 

Diese symbolische Landkarte, die sich wie ein grob gerasterter Wahrnehmungsfilter über die unendliche Vielfalt der realen Welt legt, ist die eigentliche Welt des "Ichs". Die Landkarte ist das Biotop unseres Symbols "Ich", denn dem in der realen Welt existierenden eigenen Körper wird natürlich auch ein Symbol zugeordnet. Ich bezeichne dieses Symbol "Ich" als die Mutter aller Symbole, weil alle weiteren Symbole zu diesem Symbol in Beziehung gesetzt werden. Manuel Schoch[4] nennt dieses symbolische "Ich" das abstrakte "Ich" im Gegensatz zum biologischen "Ich", das als Körper in der realen Welt existiert. Das abstrakte "Ich"-Symbol dient als Bezugs- bzw. Ankerpunkt für alles subjektiv Wahrgenommene. Es wird zum Kristallisationspunkt für alle weiteren Erfahrungen. Zum Beispiel sagt meine Tochter: "Ich bin ein Schulkind!" Von nun an wird sie ihre Erlebnisse und ihre Beziehungen zu anderen Menschen von diesem Referenzpunkt aus wahrnehmen und interpretieren: "Du bist noch kein Schulkind!" sagt sie am Nachmittag in einem keinen Widerspruch duldenden Tonfall zu ihrer drei Jahre jüngeren Schwester und stellt damit ein für alle mal klar, wer hier die Ältere, die Reifere, die mit dem höheren Status ist. Dann nimmt sie ihrer Schwester entschieden den Schulranzen weg, den diese auch mal tragen will und nun mit dem Hinweis getröstet werden muss, dass sie eines Tages ebenfalls in die Schule gehen darf.
 

Das Symbol "Ich" - dieses abstrakte "Ich" - ist nur eine Illusion, wenn auch eine recht Hartnäckige
Ungeachtet dessen, mit welchen Eigenschaftszuschreibungen dieses zerbrechliche Symbol "Ich" auch mit Wichtigkeit aufgeladen wird - ob Schulkind, Ehefrau, Ehemann, Chef, Guru oder Bösewicht - es bleibt doch nur eine Illusion, eine Täuschung, was seine vermeintliche substanzielle Existenz in der realen Welt betrifft. Losgelöst aus dem komplexen und vielschichtigen Beziehungsgeflecht mit anderen Bezugspersonen und dem Rest der Welt, hat es genauso wenig Bestand wie das Bild, das die sich selbst filmende Videokamera auf dem Fernsehbildschirm erzeugt, wenn ich den Stecker ziehe. Und doch hat dieses abstrakte "Ich" beträchtliche Angst sich aufzulösen und zu verlieren. Wir tun vieles, um unsere Identität kund zu tun: wie wir uns kleiden, was wir essen, welche Automarke wir fahren, wohin wir in Urlaub fahren - neben der Befriedidgung der ganz körperlichen Bedürfnisse kommunizieren wir damit auch immer gleichzeitig an unsere Umwelt, wofür wir uns halten und wie wir gesehen werden wollen. Vermutlich finden wir auch deshalb die Isolationshaft im grausamen Arsenal der Folterknechte, weil ein Ich, das jeglicher Beziehung und wechselnder Welterfahrung beraubt wird, irgendwann durchdreht. Es dreht durch, weil es sich nicht in verschiedenen Beziehungen zu Menschen und zur Welt immer wieder neu definieren, spüren, und sich seiner Existenz vergewissern kann.
 

Meine Identität beruht auf einer fragilen Übereinkunft zwischen mir und meinen Mitmenschen, die wie alles was lebt, regelmässig Nahrung braucht, um sich erneuern zu können. Meine Tochter braucht ihre Eltern, Lehrer und Mitschüler, die ihre Wahrnehmung als "Schulkind" tagtäglich bestätigen - sicherlich nicht immer so explizit wie am Tag ihrer Einschulung, aber immer wieder ganz nebenbei durch zahlreiche Handlungen und Bemerkungen, wie zum Beispiel: "Du musst jetzt aufstehen, sonst kommt du nicht mehr pünktlich in die Schule!" oder "Wie war es denn heute in der Schule?" Und so wie eine einzigartige Schneeflocke dadurch entsteht, dass sich Feuchtigkeit in Form von kleinsten Eiskristallen an ein schwebendes Partikel in der kalten Luft anheftet, so wächst auch das werdende "Ich" durch immer neue Erfahrungen, die sich an ein ursprünglich rein körperlich empfundenes rudimentäres Identitätsgefühl anlagern. Es wird zunehmend komplexer. Aus "Ich bin ein Schulkind" wird vielleicht "Ich bin eine gute Schülerin". Und daraus wird vielleicht "Ich bin eine gute Schülerin, aber im Rechnen bin ich ein wenig langsam". Zu dieser Identität gehören auch Beziehungen, Freund- und Feindschaften zu anderen Mitschülern, angenehme und weniger freudvolle Erlebnisse mit Lehrern und und und ? im Bild gesprochen: der Mantel unserer Identität ist gewirkt aus Bezeichnungen/Ideen/Inhalten ("ich bin ein Schulkind!") sowie Gefühlen und Empfindungen - beispielsweise der empfundene Selbstwert in dieser Rolle: es fühlt sich gut, schlecht, belastend, beglückend oder bedrohlich an, ein Schulkind zu sein.
 

Was ist unter dem Mantel unserer Identität?
Was sind wir jenseits dieser inhaltlichen Beschreibungen unserer selbst, die wir uns ähnlich einem Mantel umgehängt haben, und den damit verbundenen Gefühlen? Was bleibt von uns, wenn wir einmal wagen sollten, uns dieses Mantels zu entledigen wie der König am Ende meiner Geschichte "ein unvermeidliches Geschenk"? Getrauen wir uns überhaupt, diese Frage zu stellen geschweige denn ihr ernsthaft nachzugehen? Es scheint ein menschliches Grundbedürfnis zu sein, zu wissen, wer man ist[5]. Und um das sagen zu können, muss ich eine Grenze ziehen, denn ohne Abgrenzung keine Identität: Ich muss sagen können, wer ich nicht bin, um sagen zu können, wer ich bin: "Ich bin doch kein Kindergartenkind wie meine kleine Schwester - ich bin schon gross und gehe in die Schule!"
Was also bleibt, wenn wir den Mantel unserer "Ich"-haften Identität ablegen - und somit für einen Moment aufhören, eine Grenze zu ziehen zwischen uns und dem Rest der Welt?
 

Der chinesische Weise Lao Tse sagt:[6]

Der SINN, der sich aussprechen lässt,
ist nicht der ewige SINN.
Der Name, der sich nennen lässt,
ist nicht der ewige Name.
"Nichtssein" nenne ich den Anfang von Himmel und Erde.
"Sein" nenne ich die Mutter der Einzelwesen.
Darum führt die Richtung auf das Nichtsein
Zum Schauen des wunderbaren Wesens,
die Richtung auf das Sein
zum Schauen der räumlichen Begrenztheiten.
Beides ist eins dem Ursprung nach
Und nur verschieden durch den Namen.
In seiner Einheit heisst es das Geheimnis.
Des Geheimnisses noch tieferes Geheimnis
Ist das Tor, durch das alle Wunder hervortreten.
 

Ich verstehe Lao Tse so: DU und ICH sind nur unterschiedliche Formen, Wellen gleich, die sich vorübergehend aus dem Ozean des EINEN Formlosen erhoben haben, durch den Wind des Lebens, der die Wellen erzeugt und mit ihnen eine Weile spielt, nie wirklich getrennt vom grossen Ganzen, bis eine Laune des Lebens die Welle wieder glättet. Nichts ist verloren, war nie getrennt, nur die Form, die ist verschwunden. Illusion wäre, zu glauben, die Welle hätte eine vom Ozean unabhängige Existenz - und genau dieser Irrglaube ist eine weit verbreitete, so naive wie auch arrogante menschliche Einbildung seines abstrakten "Ichs". Dieser Irrglaube ist die grosse Illusion, wenn auch eine recht Hartnäckige.
 

Was mich in dem Buch "Ich bin eine seltsame Schleife" von Douglas Hofstadter berührt hat, ist das Kapitel, in dem er über den plötzlichen Tod seiner Frau schreibt, die mit 42 Jahren ohne Vorwarnung an einem Hirntumor stirbt. Hier beschreibt er auf sehr persönliche Weise, wie sehr er mit seiner Frau Erinnerungen, gemeinsame Erfahrungen, Ideen und natürlich das gemeinsame Erleben ihrer beiden Kinder geteilt hat, wie sehr er auf diese Weise sein eigenes "Ich" mit dem "Ich" seiner Frau verwoben hatte, sie ein Teil seines "Ichs" / seiner Identität und er ein Teil ihres "Ichs" / Ihrer Identität geworden war. Er kommt zu dem Schluss, dass es keinen Unterschied mehr zwischen Dir und mir gibt, wenn wir vom selben Punkt aus die Welt "für wahr nehmen". Und daraus folgt für ihn, dass seine Frau nach ihrem Tod noch in ihm weiterlebt. Er schreibt:

"Bei einer Sonnenfinsternis bleibt eine Corona, ein Schimmern rings um den Schatten. Menschen, die sterben, hinterlassen eine schimmernde Corona, einen Abglanz in den Seelen derer, die ihnen nahe waren. Der Abglanz wird im Lauf der Zeit unweigerlich schwächer und verschwindet schließlich ganz, aber bis es soweit ist, vergehen viele Jahre. Wenn irgendwann einmal alle die, die dem Verstorbenen nahe standen, auch gestorben sind, dann wird alle Glut erkaltet sein, und dann wird es mit Recht heißen: ?Asche zu Asche, und Staub zu Staub?"(S. 335)
 

Er geht davon aus, dass es keinen Unterschied mehr zwischen Dir und mir gibt, wenn wir gemeinsam in einen Erfahrungsraum eintauchen - zum Beispiel - wenn wir uns als Eltern von unseren Kindern berühren lassen. Dann treffen wir uns in dem EINEN Bewusstsein. Und darum ist er überzeugt, dass wir ein umso größeres Selbst haben, je mehr Menschen wir in uns aufgenommen haben, in dem Sinne, dass wir bereit sind, unvoreingenommen aus ihrer Sicht in die Welt zu blicken, wahrzunehmen und zu fühlen. Deshalb erwähne ich hier noch mal das Zitat, das ich diesem Essay voran gestellt habe:

Man könnte vielleicht sagen, dass Albert Schweitzer und andere Leute seines seltenen Formats selbstlos sind. Ich verstehe diese Idee und denke, dass sie etwas für sich hat, aber auf der anderen Seite habe ich ja so argumentiert [...], dass ein Mensch, je großherziger er ist, ein desto größeres - nicht kleineres! - Selbst beziehungsweise eine desto größere Seele hat. Ich würde also sagen, dass die, die uns so selbstlos vorkommen, in Wahrheit sehr seelenvoll sind - das heißt, sie beherbergen in ihrem eigenen Geist, in ihrem eigenen Schädel/Gehirn/Bewusstsein/ihrer eigenen Seele, viele andere Seelen -, und ich glaube, dass dieses Teilen von Bewusstseinsraum ihr Innerstes nicht verkleinert, sondern vergrößert und bereichert. (S. 449)

Aus dieser Sichtweise folgt für mich, dass Persönlichkeitsentwicklung nicht mit Bildung im Sinne von Wissenserwerb verwechselt bzw. auf diesen reduziert werden darf, wie es heute mehr denn je an den meisten Schulen Schwerpunkt aller Bemühungen ist. Hofstadter betont, dass die Erweiterung unseres Selbst vielmehr auf der Entwicklung unserer Fähigkeit - oder besser: Bereitschaft - zu Mitgefühl beruht. Nur in dem Masse, in dem ich mich mitfühlend in Menschen und andere Lebewesen hineinversetze und bereit bin, ihre Perspektive einzunehmen, nehme ich sie in mich auf und dehne mein Selbst aus. Und das gelingt nur, wenn ich erkenne: Ich bin Du.
 

Angesichts des gewaltigen technologischen Fortschritts, den die Menschheit in ihrer bisherigen Evolution vollzogen hat, hinken wir in der Bildung unseres Herzens um Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende hinterher, was dazu führt, dass technologische Errungenschaften in grossem Ausmass für noch ausgefeiltere Waffensysteme und die zukunftsvernichtende Ausbeutung unserer Umwelt missbraucht werden. Damit möchte ich keineswegs den technologischen Fortschritt an sich verteufeln - das grosse Problem ist nur, dass er den Horizont des Machbaren für viele Menschen ganz wesentlich erweitert, eben nicht nur für einen Albert Schweitzer, sondern auch für solche, die sich den Rest der Welt untertan machen wollen.

Ich wünsche meiner Tochter, dass sie an der Schule, für die wir uns entschieden haben, ihr Mitgefühl bewahren und weiterentwickeln kann, aber natürlich auch, dass sie bald die Hausaufgaben bekommt, nach denen sie sich (noch) so sehr sehnt.

Ingo Heyn

Oktober 2008
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 Fussnoten 


 

  1. Douglas Hofstadter, "Ich bin eine seltsame Schleife", Klett-Cotta, 2008

     
  2. Essay Nr. 6: Kurt Gödel und der Zauber des blinden Flecks
     
  3. Fachleute der Kybernetik (altgriechisch, wortwörtlich übersetzt: Steuermannskunst) und Regeltechnik sagen dazu auch gerne "Feedback"-Schleife, wortwörtlich übersetzt "Rückspeisungs-" Schleife, weil die Messdaten wieder Einfluss auf das Verhalten der Maschine haben, die die Messung vornimmt. Das klassische Beispiel hierfür ist die Zentralheizung in unserem Haus, die mit einem Temperaturfühler die Außentemperatur misst und uns in Abhängigkeit von dem Ergebnis mehr oder weniger stark einheizt. Das Prinzip der Rückspeisung beschränkt sich natürlich nicht auf die Steuerung von Maschinen, wie in der Darstellung der Ouroboros-Schlange eindrucksvoll dargestellt (siehe oben).
     
  4. Manuel Schoch (1946-2008): TAO: Vier aktive Meditationen, Weggis, 2003
     
  5. Dieses Grundbedürfnis zeigt sich zum Beispiel darin, dass Kinder, die bei Pflegeeltern aufgewachsen sind und denen ihre leiblichen Eltern verheimlicht wurden, eine grosse Sehnsucht haben herauszufinden, woher sie wirklich kommen, wessen Kind sie wirklich sind, denn das Wissen um die eigenen Wurzeln ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Identitätsgefühls. Kinder, die nicht genügend wahrgenommen werden und sich somit auch nicht als wichtig und wertvoll erleben, werden lieber Bösewichte, als dass sie ein Nichts sind, um wenigstens über das Anecken und Stören sich selbst in Bezug zu anderen erleben zu können. Lieber ein Bösewicht als gar niemand, scheint das Prinzip zu sein.
     
  6. Zitiert aus: Tao Te King, Hrsg: Richard Wilhelm, 1978