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Nein, ich mag nicht aufstehen!

 

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"Es kommt einzig darauf an, bei sich zu beginnen."

Martin Buber

"Nicht mit Dir sollst du dich befassen, sondern mit der Welt."

Martin Buber
 

 


 

 

 

"Nein – ich mag nicht aufstehen!" Meine Tochter dreht sich unwillig zur Seite und weigert sich, in einen neuen Tag aufzuwachen. Es ist Zeit, das Bett zu verlassen und in die Schule zu gehen. Von der Anfangsfreude des ersten Schultages[1] ist in diesem Augenblick nichts mehr zu spüren. Solche Augenblicke sind in den letzten Monaten leider häufiger geworden – um diese Zeit des Tages.

Was holt uns morgens aus dem Bett?, hat Peter Gruber[2] uns einmal in einem Workshop über Werte zu Beginn gefragt. Gibt es einen Wert, von dem wir uns gerne in den Tag hineinziehen lassen, der stärker ist als die Verlockungen eines warmen Bettes? Oder ist es nur noch gewohntes Müssen, bei dem wir aufgegeben haben, uns aufzulehnen und nun widerwillig einfügen in eine übermächtige Maschinerie, gleich einem Zahnrad, das versehentlich mit Selbstbewusstsein ausgestattet wurde? Einfügen, weil eine Verweigerung Unannehmlichkeiten nach sich ziehen würde, die ein zu hoher Preis für das warme Bett und die Träume darin wären?

Es ist mühsam geworden, meine Tochter aus dem Bett zu scheuchen. Sie hat dann schlechte Laune, die anstecken kann – wenn ich nicht aufpasse, bekomme ich auch welche. Es fühlt sich an wie das Gewicht des sprichwörtlichen Pferdes, das zur Tränke getragen wird. Zum Glück nur für die erste halbe Stunde. Bisher hat sie es immer rechtzeitig in die Schule geschafft, und später am Tag ist der Schatten des Morgens dem Licht neuer Erlebnisse gewichen, aber für uns Eltern fühlt sich diese morgendliche Mühsal wie ein zwar tragbares, aber doch lästiges Gegengewicht zu dem an, was uns aus dem Bett lockt. Bis vor kurzem.

Jetzt ist es anders. Als ich meiner Tochter neulich eine gute Nacht wünschte, fragte sie mich, ob ich sie früher als sonst wecken könne. Aber natürlich, versprach ich ihr, so erfreut wie überrascht von ihrer Bitte. Am nächsten Morgen flüsterte ich ihr bereits eine viertel Stunde vor der gewohnten Zeit ins Ohr, dass sie mich doch gebeten habe, sie früher zu wecken. Es sei jetzt an der Zeit aufzustehen. Sie öffnete schlaftrunken die Augen, blickte kurz umher, als ob sie sich nicht ganz sicher sei, in welcher Welt sie sich gerade befindet, reckte sich, richtete sich auf und nickte. Zügig stand sie auf und zog sich an. Als ich in die Küche kam, hatte sie schon in der Sitzecke Platz genommen. Was war geschehen? Wie kommt es, dass sie sich plötzlich so ganz anders verhält – und zwar seither jeden Morgen? Als ob jemand einen Schalter umgelegt hätte.

Am Tag zuvor war sie zufällig nach einem erholsamen Wochenende und vielleicht auch aufgrund der noch nicht lange zurückliegenden Zeitumstellung früher als gewohnt von alleine aufgewacht. So hatte sie Zeit gefunden, noch ihrer Lieblingsbeschäftigung nachzugehen: Stricken. Nachdem sie sich eine halbe Stunde dem gewidmet hatte, was ihr Herz erfreut, war sie bereit für den Tag. Sie braucht wohl ihre eigene Zeit, um zu sich zu kommen. Ihre Eigenzeit. In der sie sich dem widmet, was ihrem Wesen entspricht. Sie kann bei sich aufwachen. Ihre Lebensfreude finden, die sie offensichtlich empfindet, wenn sie sich in ihre Handarbeiten vertieft. Das sieht man an den feinen Werken, die sie anfertigt. Von dort aus kann sie dann gut in die Welt hinaus gehen.

Ich frage mich, ob dies nicht ein Beispiel für etwas Grundsätzliches ist. Dass wir Ruhe, Kraft und die Bereitschaft, ja sogar die Spielfreude, sich auch den Forderungen der Welt zu stellen, nur dann finden können, wenn wir mit uns selbst in Verbindung sind, mit dem, was unser Wesen ausmacht, kurz: wenn wir bei uns selbst sind.

Um zu mir zu finden, wäre es gut zu wissen, was mein Wesen ist, denn wie soll ich sonst erkennen, dass ich mir nahe komme? Was ist unser Wesen, wer sind wir? Sehe ich es, wenn ich in den Spiegel schaue, oder das Passbild betrachte, dass ich neulich für einen neuen Reisepass anfertigen lassen musste? Sehe ich es in meinen Träumen oder wenn mir jemand sagt: Das ist typisch für Dich? Oder wenn ich einen Persönlichkeitstest durchführe?

Für mich ist die Spur, die zu mir führt, das, was mich beglückt, was mich erfüllt, was mein Herz höher schlagen lässt, das, was mich umtreibt und nicht ruhen lässt bis es so gerichet ist, wie es meinem Sinn für das Gute entspricht. Es ist das, wofür ich bereit bin, auch Leiden in Kauf zu nehmen, einen Preis zu zahlen. Ich bin mir nahe, wenn mich jemand nach dem Grund meines Tuns fragt, und ich kann eigentlich nur noch sagen "Einfach darum", so wie meine jüngste Tochter neulich, als ich sie fragte, warum sie so gerne filzt, und sie sagte "Einfach!" und lächelte mich dazu an. Bei dieser Erklärung blieb es.

Aus Sicht der philosophischen Strömung des Existenzialismus[3] ist der letzte Grund unseres Tuns nicht nennbar, er ist uns verborgen, so wie wir uns selbst verborgen bleiben [4]. Unser Wesen gibt sich nur indirekt zu erkennen, wenn wir die Welt erfahren. So wie ein Seefahrer, der sich nur indirekt mit einem Echolot ein Bild vom Grund des Meeres verschaffen kann, in dem er es immer wieder mit seinem Instrument auslotet, tasten auch wir unser Wesen ab, bekommen eine Ahnung, in dem wir uns gleich einem Lot selbst in die Welt hinein lassen, uns auf sie einlassen und dadurch Menschen begegnen, Erfahrungen sammeln, Dinge ausprobieren und dann das Echo sowohl von aussen, aber vor allem aus unserem Innern empfangen: Ein Echo in Form eines gefühlten Wissens: Dies tut uns gut, denn es entspricht unserem Wesen, kommt ihm zumindest nahe und jenes überhaupt nicht, lässt uns zurückweichen und verdirbt uns vielleicht sogar für eine Weile den Appetit auf’s Leben. Erst durch dieses Einlassen bringen wir uns in die Welt. Erst durch das Erfahren der Welt erfahren wir uns. So verstehe ich Martin Buber, wenn er sagt: Alles wirkliche Leben ist Begegnung.

Man könnte auch sagen, es ist wie Topfschlagen zum Geburtstag, dieses alte Spiel aus meinen Kindheitstagen: Es wird eine Überraschung unter einem umgekehrten Topf irgendwo im Raum versteckt, dem Kind werden die Augen verbunden, und mit einem Kochlöffel in der Hand darf es nun nach dem Topf schlagen, bis es ihn gefunden hat. Manche der lachenden Kinder rufen dazu "kalt", "kälter", oder "warm", "wärmer", "heiss!", "noch heisser!", je nachdem, wie nah das suchende Kind seiner Überraschung schon gekommen ist.

Für mich ist es ein passendes Bild für das Phänomen des "Sich selbst findens": Wir selbst sind und bleiben uns eine Überraschung ein Leben lang. Wenn mich jemand fragt, was mein Wesen ist, fühlen sich meine Augen verbunden an, denn es ist mir unmöglich, direkt auf mich zu schauen und Antwort zu geben. Gut, ich könnte meine Personalien angeben und ein paar Ab- und Zuneigungen nennen, aber ist das schon alles, mein Wesentliches? Eher bekomme ich eine Ahnung über das Wesen eines Menschen, wenn ich erfahre, was ihn erfüllt, in welchem Tun er sich selbst vergessen kann, wo er Feuer fängt und was ihn kalt lässt. Es bleibt aber immer nur eine Annäherung, ist niemals direktes und vollständiges Erfassen.

Im Sinne des Existentialismus verstehe ich unsere existentielle Situation so: Wir bringen uns selbst, unser Wesen, in jenen Augenblicken auf die Welt, da wir etwas mit Freude tun, etwas, das unser Leben mit Sinn erfüllt; wir bringen uns auf die Welt, wenn wir uns selbst vergessen in dem Erschaffen von etwas, das wir um seiner selbst erschaffen wollen. Nicht, weil wir dafür etwas bekommen oder etwas vermeiden können, sondern einfach so. Einfach!

Im Bild des Topfschlagens bleibt die Frage: wer oder was sagt mir im wirklichen Leben, ob ich der Überraschung meines eigenen Wesens näher komme oder mich von ihr entferne? Was in meinem Leben sagt "kalt", "kälter", oder "warm", "wärmer"? Andere Menschen, denen ich vertraue, oder Menschen, denen ich vielleicht mehr zutraue als mir selbst, oder Ratgebern unterschiedlichster Couleur, die sich auf dem Buch – und Erlösungsmarkt tummeln?

Und wenn sich verschiedene Ratgeber anbieten: Für welchen von ihnen entscheide ich mich, anhand welcher Kriterien treffe ich überhaupt die Entscheidung? Auf wen höre ich und auf wen nicht? Ich finde als letzte Instanz immer wieder nur ein Gefühl, ein manchmal vages, manchmal sehr deutliches Empfinden in mir vor: Dieser Spur will ich folgen, jene spricht mich nicht an. Dieses Empfinden, das meinem Entscheiden und Handeln erst die rechte Kraft gibt, ist eine Antwort, die - wenn ich ehrlich bin - sich meinem eigenen Zugriff und Verstehen entzieht. Sie kommt oder sie kommt nicht. Was mir bleibt: ich kann in mich hinein lauschen und meine inneren Ohren spitzen, meine Sinne schärfen für diese innere Kompassnadel. Aber ich kann ihren Wink nicht selbst erzeugen und schon gar nicht die Richtung bestimmen, in er weist. Kann ich allen Ernstes noch behaupten, ich sei selbst der Kompass, wenn er sich von mir allenfalls für eine Weile ignorieren, betäuben, überstimmen, aber sicherlich nicht steuern lässt?

Dieses wegweisende Empfinden ist ein Echo aus meinem Innern, das ich nicht beweisen, nicht rational begründen kann. Natürlich kann ich mir mitunter einen Reim darauf machen, kann häufig, wenn gefragt, ein paar vernünftig klingende Gründe für meine Entscheidungen nennen, aber letztendlich bleibt mir die Herkunft dieses Echo-Lotes selbst unergründlich. So gesehen lasse ich mich von etwas Unergründlichem leiten. Und wenn ich mir selbst schon unergründlich bin, wie sieht es dann mit dem anderen aus, dem anderen Menschen, dem ich begegne? Er oder sie ist genauso unergründlich wie ich. Und wenn wir uns begegnen wollen, - so hat es Alfried Längle[5] auf den Punkt gebracht - dann braucht es diesen Respekt sowohl vor der eigenen Unergründlichkeit wie auch den Respekt vor der des anderen. In dieser Unergründlichkeit sind wir einander gleich, darin sind wir eins. Du. Und ich. Die Behauptung, dich zu kennen, - und auch mich zu kennen - ist so betrachet immer eine Anmassung, die wahre Begegnung verbaut.

Ich glaubte, meine Tochter zu kennen: Sie mag morgens einfach nicht gerne vor ihrer Zeit aufstehen. Dachte ich. Sonst hätte sie mich ja nicht überraschen können.

Ich schaue ihr zu, wie sie sorgsam mit der Spitze ihrer Stricknadel eine neue Schlaufe aufnimmt, den Faden geschickt durchzieht und sich dann der nächsten Schlaufe zuwendet. Schlaufe für Schlaufe, unermüdlich, in ihrem ganz eigenen Rhythmus. Und das so früh am morgen. Sie wirkt ruhig und zufrieden auf mich und lädt mich damit ein, es auch zu sein. Dafür stehe ich gerne etwas früher auf. Und als es Zeit ist, sich auf den Schulweg zu machen, legt sie selbstverständlich ihr Strickzeug beiseite und macht sich ohne weiteres fertig für den Tag. Denn jetzt ist sie bereit für die Welt. Sie ist bei sich. Einfach!

Ingo Heyn
November 2010



 

 Fussnoten 


 

  1. Ich bin ein Schulkind!
     
  2. Dr. Peter Gruber ist Psychotherapeut in eigener Praxis (Existenzanalyse und Logotherapie) in Wien
     
  3. [Der] erste Schritt des Existentialismus [ist], jeden Menschen in Besitz dessen, was er ist, zu bringen und auf ihm die gänzliche Verantwortung für seine Existenz ruhen zu lassen. Und wenn wir sagen, dass der Mensch für sich selber verantwortlich ist, so wollen wir nicht sagen, dass der Mensch gerade eben nur für seine Individualität verantwortlich ist, sondern dass er verantwortlich ist für alle Menschen. Zitiert nach Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, Reinbek rororo, 1993, Seite 191
     
  4. Der Philosoph Martin Heidegger spricht vom ab-gründigen Denken und meint damit eine Position, die keinen letzten Grund mehr kennt.
     
  5. Dr. Alfried Längle ist Arzt für Allgemeinmedizin und psychotherapeutische Medizin, Lehrtherapeut (GLE, Österr. Ärztekammer); Vorsitzender und Gründungsmitglied der internationalen Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse (GLE)