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Im Räderwerk der Teamentwicklung

 

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Man vergisst immer wieder auf den Grund zu gehen.
Man setzt die Fragezeichen nicht tief genug.

Ludwig Wittgenstein

 


 

 

 

Es war ein schöner Auftrag. Die Gruppe war vor etwas mehr als fünfzehn Jahren gegründet worden. Zu ihr gehörten erfahrene Menschen, die gewohnt waren, sowohl für ihre eigene Meinung einzustehen – auch wenn diese unbequem war - als auch diese bei berechtigter Kritik zu hinterfragen. Selbstreflexion war für sie kein Fremdwort, da sie selbst in führender oder beratender Funktion tätig waren. Zudem prägten unterschiedliche Generationen der Zugehörigkeit die Dynamik dieser Gruppe: Es gab welche, die zu den Gründungsmitgliedern zählten – sozusagen das Urgestein dieser Gruppe -, einige, die schon seit ein paar Jahren dabei waren - ich nenne sie hier die mittlere Generation - und auch zwei neue Mitglieder.

Um eine gewisse Kontinuität und Stabilität der Gruppe zu gewährleisten, musste sich jeder vor Beginn einer nächsten Etappe überlegen, ob er für weitere drei Jahre dabei sein oder aussteigen wollte. Jede Etappe begann mit einem Auftaktworkshop, der neben der Behandlung eines fachlichen Themas auch den Prozess der Gruppenbildung in neuer Zusammensetzung fördern sollte. Mein Auftrag war, solch einen mehrtägigen Workshop zu gestalten.

Der erste Tag verlief harmonisch. Man lernte sich anhand von Fragen zur eigenen Lebens- und Arbeitssituation neu oder noch näher kennen und diskutierte berufliche Themen persönlich und vertrauensvoll. Es gab nur einen Haken, an dem sich bald eine lebhafte Diskussion entzündete: Zwei neue Mitglieder waren am ersten Tag nicht erschienen. Der eine war wegen Krankheit entschuldigt, die Zweite hatte ausrichten lassen, dass sie erst am Vorabend des letzten Tages der dreitägigen Veranstaltung erscheinen könne, weil sie sich nach sorgfältiger Abwägung entschieden hatte, in ihrem Netzwerk für einen erkrankten Arbeitskollegen einzuspringen. Beide hatten gute Gründe, die nicht in Zweifel gezogen wurden, jedoch verstießen sie damit gegen eine Regel, auf die man sich in der langjährigen Historie der Gruppe geeinigt hatte. Diese Regel sah vor, dass alle Mitglieder der Gruppe bei der ersten konstituierenden Veranstaltung einer neuen Etappe ausnahmslos teilzunehmen hatten. Sollte dies aus welchen Gründen auch immer nicht möglich sein, hätte das zur Konsequenz, dass man erst wieder zu Beginn der nächsten Etappe in drei Jahren dazu stoßen könnte.

Alle in der Gruppe waren mit dieser Regel vertraut, waren jedoch – wie die nachfolgende Diskussion zeigte – unterschiedlicher Auffassung darüber, wie streng diese Regel ausgelegt werden sollte. Es dauerte nicht lange, und die Diskussion drohte die Gruppe in zwei Lager zu spalten: Jene, die für die verbindliche Anwendung getroffener Beschlüsse plädierten und dafür in den Verdacht der "Prinzipienreiterei" gerieten und jene, die für einen flexiblen Umgang mit Regeln warben, insofern als die Regel nur nach sorgsamer Prüfung der Umstände Anwendung finden sollte. Mit dieser Auffassung handelten sie sich wiederum den Vorwurf der Missachtung gemeinsamer Beschlüsse und fahrlässiger Unverbindlichkeit ein ("Wozu noch Regeln, wenn sie nachher nicht gelten?"). An diesem Punkt der Diskussion zeichnete sich ab, dass die Gruppe auf einen Kollisionskurs einschwenkte, der durch ein Muster zunehmend emotional vorgebrachter Argumente und der Wiederholung des eigenen Standpunktes gekennzeichnet war.

Die Erfahrung zeigt: Findet in solch einer Auseinandersetzung niemand die Abzweigung, schleichen sich mit der Zeit gereizte Antworten ein, die zu einer Atmosphäre zunehmender Frustration beitragen. Es dauert nicht lange und das Interesse schwindet, den Standpunkt des anderen - auch wenn er erst einmal sehr fremd erscheinen mag – noch erkunden zu wollen. Das Frustrationspotential steigt, subtile Abwertungen werden wahrscheinlicher und damit auch das Gefühl, in einer Sackgasse gelandet zu sein, in der weiteres Reden zwecklos erscheint.

Soweit kam es nicht. Wir fanden die Abzweigung – zumindest fürs Erste, denn es zeigte sich beim Erkunden der jeweiligen Standpunkte, dass jeder durchaus gute Gründe hatte, die bisher nicht genügend gehört und verstanden worden waren:

Die Gründungsmitglieder, die auf der Einhaltung der Regel beharrten, hatten schmerzliche Erfahrungen gemacht, die zu der Einführung dieser Regel geführt hatten. Mehr als einmal hatte sich nämlich gezeigt, dass sich der Verzicht auf die Teilnahme an einem gemeinsamen Auftaktworkshop, in dem sozusagen die neue Gruppe geboren wurde, später rächte, und zwar in herausfordernden Situationen, die auf Dauer keiner Gruppe und keinem Projekt erspart bleiben. Solche Herausforderungen sind ein Prüfstein dafür, ob die Gruppe nur unter Schönwetterbedingungen beisammen sein kann, oder ob die Menschen auch in stürmischen Zeiten aufgrund ähnlicher Werte, einer gemeinsamen Absicht und einer herzhaft errungenen Kultur wertschätzender Auseinandersetzung noch zueinander halten.[1] Man hatte also genügend oft erfahren, dass die später Hinzugekommenen sich nicht genügend integriert hatten, wichtige Fragen ungeklärt waren und die nachträgliche Klärung unverhältnismäßig mehr Zeit und Nerven kostete, wenn sie überhaupt noch möglich war. Diese schmerzlichen Erfahrungen waren nun durch die Missachtung der Regel ("Alle sind von Anfang an oder gar nicht dabei") wieder wachgerufen worden.

Die Vertreter der mittleren Generation jedoch sahen die Situation so: Jeder, der sich ernsthaft darum bemüht hat, Mitglied der Gruppe zu werden und die Voraussetzungen hierfür erfüllt, sollte doch nicht nur deshalb, weil er aus verständlichen Gründen beim ersten Treffen verhindert ist, ausgeschlossen werden. Werte wie Toleranz und Rücksicht auf individuelle Bedürfnisse in außergewöhnlichen Situationen lagen ihnen besonders am Herzen. Sie kannten zwar die Regel, hatten jedoch nicht die Erfahrungen gemacht, die zu dieser Regel geführt hatten. So fiel es ihnen leichter, für eine Ausnahme zu plädieren.

Als diese guten Gründe ausgesprochen waren, einigte man sich darauf, eine neue Erfahrung zu wagen und die Regel für dieses Mal auszusetzen. Die Gemüter beruhigten sich und man beschloss, am dritten Tag die neue Teilnehmerin über die stattgefundene Diskussion zu informieren.

Als es soweit war, wurde es erneut spannend. Die neue Teilnehmerin hatte sich nach einer herzlichen Begrüßung in der Gruppe zu Beginn des Tages vorgestellt und bei dieser Gelegenheit erzählt, dass sie vor kurzem ihren runden Geburtstag gefeiert und sich zum ersten Mal in ihrem Leben die Freiheit geschenkt hatte, diesen entgegen den Gepflogenheiten ihrer Familie so zu gestalten wie es ihr beliebte, und nicht wie es den Erwartungen anderer entsprach. Diesen gefühlten Verstoß gegen informelle Regeln ihrer Familie hatte sie als befreiend empfunden und markierte für sie eine neuen Schritt auf ihrem Lebensweg zu sich selbst. Sie entschuldigte sich noch einmal mit Verweis auf die Notsituation ihrer Kollegin für ihre Abwesenheit während der ersten zwei Tage und schloss ihre Vorstellung mit der Aussage ab, dass sie sich nun darüber freue, in dieser Gruppe zu sein. Danach wurde von einem der Gründungsmitglieder wie besprochen die neue Teilnehmerin darüber in Kenntnis gesetzt, dass es aufgrund der Abwesenheit von ihr und dem erkrankten Teilnehmer zu einer engagierten Diskussion rund um die besagte Regel gekommen sei. Sogleich entzündete sich erneut eine Diskussion, die als ein anschauliches Beispiel für eine bestimmte Phase im Reifungsprozess einer Gruppe dienen könnte – zum Beispiel für die "Storming"-Phase im Modell von B. Tucker[2] oder als Beispiel für die sogenannte "Chaos-Phase" nach Scott Peck[3].

Da wir das Modell "Spiral Dynamics" am Tag zuvor ausführlich besprochen hatten, schien mir die Gelegenheit günstig, zum tieferen Verständnis der aufflammenden Dynamik dieses Modell für die gemeinsame Reflexion zu nutzen - nicht zuletzt auch deshalb, weil es ein tieferes Ausleuchten der jetzigen Gruppendynamik erlaubte. Ich habe das Modell in meinem Essay Die Farben unserer Werte im Licht des Modells "Spiral Dynamics" besprochen.[4]
Nun gab es im Wesentlichen drei Perspektiven, die sich im Licht des Modells Spiral Dynamics gut beleuchten und in ihrem Konfliktpotential verstehen lassen, denn alle drei Perspektiven weisen auf unterschiedliche Wertsysteme hin, die in dem Modell differenziert beschrieben werden.

  1. Die Gründungsmitglieder bezogen sich vor allem auf die Qualität des sogenannten "blauen" Wertesystems (verbindliche, allgemeingültige Regeln und Strukturen sind wichtig: Betonung der "Ordnung").
  2. Die mittlere Generation betonte einen Wert, der einem "grünen" Wertesystem zugerechnet wird (Gruppenorientiert mit Schwerpunkt auf Akzeptanz, Zugehörigkeit und Konsens: Betonung des "Wir").
  3. Für die neue Teilnehmerin lag in ihrer aktuellen Entwicklung der Wert der Autonomie, Freiheit und Individualität besonders am Herzen. Dieser Wert entspricht dem orangenen Wertesystem (individualistisch und autonom: Betonung des "Ich").

 


Wie ich in der Besprechung des Modells "Spiral Dynamics" ausgeführt habe, birgt jeder dieser verschiedenen Ebenen ("blau", "grün", "orange", etc.) als Kern eine unverzichtbare Qualität in sich, läuft jedoch Gefahr, in der dominierenden Überbetonung ihres Wertesystems (bedingt durch Entwicklung oder eine Situation) ein konflikthaftes Spannungspotential mit dominierenden Vertretern der anderen Wertesysteme aufzubauen, das sich dann in unversöhnlichen Auseinandersetzungen durchaus sehr emotional entladen kann. Unversöhnlich ist es dann, wenn es nicht gelingt, aus einem "Entweder-Oder"-Denken herauszufinden und die verschiedenen Qualitäten, für die jeder auf seine Weise mit einem ausschließenden Absolutheitsanspruch die Fahne hochgehalten hat, wieder im Sinne eines "Sowohl-als-auch" wertzuschätzen.

Genau dieser wertschätzende Blick auf die jeweiligen Qualitäten war die Abzweigung, die wir glücklicherweise nehmen konnten, nachdem wir gemeinsam in der Gruppe im Licht des Modells "Spiral Dynamics" die Situation und die drei Perspektiven beleuchtet hatten. Nach dieser klärenden Aussprache waren alle bereit, erneut zu erfahren, wie gut die Integration gelingen kann, wenn jemand nicht von Anfang an dabei ist. Und schon hatte die Gruppe mit dieser ersten Auseinandersetzung genau das erlebt, was Beziehung wachsen lässt: angesichts unterschiedlicher Perspektiven und Bedürfnisse einen gemeinsamen Umgang damit finden und damit auch eine Kultur fördern, in der jeder sagen kann, was ihm am Herzen liegt, auch wenn es nicht zu passen scheint, und doch - oder gerade deshalb - kann man ein weiteres Stück des Weges gemeinsam gehen.

Es ist schön, wenn das gelingt, was die Natur uns täglich vorlebt: Nicht eine Farbe, sondern immer wieder neue einzigartige Farbkombinationen und Schattierungen, wohin das Auge blickt. Aber wir Menschen müssen manchmal einfach sortieren, bevor es wieder lebendig und farbig zwischen uns werden kann. Erst differenzieren, dann integrieren.

 









Ingo Heyn

im April, 2016


 

 Fussnoten 


 

  1. Auf internationaler Ebene zeigt sich im Zuge der Währungskrise und dem Umgang mit den vielen Flüchtlingen, die derzeit Zuflucht suchen, welche Prüfsteine sich für ein politisches Gebilde wie die EU auftürmen können, wenn man in Werten und Grundhaltungen nicht wirklich beieinander ist.
     
  2. Dieses Phasenmodell, entwickelt von Bruce Tuckman (1965) postuliert vier Phasen im Reifungsprozess einer Gruppe: "Forming" – "Storming" – "Norming" – "Performing"
     
  3. Scott Peck postuliert ebenfalls vier Phasen: "Pseudo-Team", "Chaos-Phase", "Phase der Leere", "arbeitsfähiges Team", siehe hierzu meine ausführliche Besprechung seines Modells: Die vier Phasen der Teamentwicklung nach Scott Peck
     
  4. Eine ausführliche Erläuterung siehe auch hier: Spiral Dynamics: Die Entwicklung von Wertsystemen