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Erkunden statt verwunden - Zehn Prinzipien für den Umgang mit Konflikten

 

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In Konflikten ist unsere Lebensenergie gebunden – persönliche Energie, die durch die gefühlte Bedrohung von Werten, die Gefährdung von Interessen oder die Frustration vitaler Bedürfnisse für die Verteidigung derselben in uns wachgerufen wird.

Sowohl bei inneren wie auch äußeren Konflikten wendet sich die Energie des Einen gegen die Energie des Anderen und führt zu Unterdrückung, Ausbruch von Gewalt oder zu gegenseitiger Blockade in einer Pattsituation. Wird die Energie allerdings durch Auflösung des Konflikts freigesetzt, steht sie für anderes zur Verfügung: zum Beispiel für gemeinsames schöpferisches Handeln im Sinne geteilter Werte und Interessen oder schlicht für all das, was in uns Lebensfreude weckt.

Doch wie kann die in Konflikten gebundene Energie befreit werden?

Der erste Schritt ist eine Änderung der Bewertung des Phänomens 'Konflikt": Wir werten den Konflikt nicht länger als etwas Schlechtes ab, sondern nehmen ihn wahr als eine verstörende Botschaft, die uns verschlüsselt etwas Wichtiges über uns selbst (was brauche ich eigentlich / ist mir wichtig?) und unsere (Arbeits-)Beziehung mitzuteilen hat (Wie gehen wir miteinander um?). Mindestens zwei Kräfte liegen im Konflikt im Widerstreit. Worum geht es in der Tiefe? Was bebt unter dem Boden des Schlachtfeldes unserer Auseinandersetzung? Welche Sehnsüchte, welche Ängste, welche Bedürfnisse, welche Wahrheiten glauben wir verteidigen zu müssen – oder geht es gar um unsere Würde und uns selbst? Auf jeden Fall geht es um Wesentliches, sonst würden wir nicht so viel Energie in den Konflikt investieren und uns statt dessen einfach sein lassen.

Die Antworten auf diese Fragen verbergen sich unter dem vielfältigen Gewand des Konfliktes, sei es zum Kampf auffordernd, sei es bedrohlich abschreckend oder einfach irritierend – auf jeden Fall nicht einladend, das darunter Verborgene zu erkunden. Und doch können wir nur durch Erkunden die Botschaft des Konflikts entschlüsseln, eine Botschaft, die von etwas kündet, was noch nicht genügend wahrgenommen und gewürdigt wurde. Erkunden kann nur im gemeinsamen Dialog stattfinden. Gelingt dies, haben wir uns selbst und den Anderen etwas mehr kennengelernt. Gemeinsam erkennen, wie es uns gelungen ist, aneinander zu geraten sind, kann unsere Beziehung (ob partnerschaftlich, freundschaftlich, kollegial oder geschäftlich) vertiefen, denn wir wissen nun genauer, was uns bewegt und uns am Herzen liegt.

Der zweite Schritt ist eine Änderung der Haltung: Es geht nicht mehr um Gewinnen oder Verlieren, sondern um gemeinsames Lernen. Wir können voneinander lernen. Wir lernen uns in diesem Konflikt näher kennen, wenn wir hinter die Kulissen der Positionen und Standpunkte schauen (zum Beispiel die Position: Ich will ans Meer, und Du willst in die Berge) und dahinter stehende Werte und Interessen erkunden (Warum willst Du eigentlich ans Meer und ich in die Berge? Was findest Du dort und nicht hier?). Die Annahme: Hinter jedem Standpunkt ist ein Beweggrund. Vielleicht sehe ich nur Deinen Standpunkt, störe mich an ihm, da er meine Pläne durchkreuzt, sehe jedoch nicht Deinen Beweggrund, der Dich dort verharren lässt, solange Du keine Alternative gefunden hast, Deinen Beweggrund auf andere Weise zu leben oder auszudrücken.

Würdevolles Erkunden Deiner mir unbekannten Beweggründe kann nur im Dialog stattfinden. Im Dialog begegnen wir uns auf Augenhöhe, gleichwertig – Du und Ich, auf Subjekt-Subjekt-Ebene. Die Subjekt-Objekt-Ebene hingegen bedeutet: Ich (Subjekt) versuche Dich (Objekt) zu manipulieren und so zu behandeln, dass Du Dich zukünftig mehr zu meinem Vorteil verhältst. Du wirst zum Objekt meiner Interventionen, ich versuche etwas zu tun, arbeite mit Tricks, Schach- oder Winkelzügen, vielleicht mit Drohgebärden oder Lockmitteln, ich instrumentalisiere Dich, um für mich den größtmöglichen Vorteil herauszuschlagen.

Ob ich den Dialog mit Dir suche oder Dich mehr oder weniger trickreich zum Objekt meiner Interventionen mache, entscheide ich aufgrund ...

  • persönlicher Werte
  • dessen, was Du mir wert bist
  • der Erfahrungen, die ich grundsätzlich mit beiden Ansätzen (Dialog oder Behandlung) ...
  • und im speziellen mit Dir bisher gemacht habe.

 

 

Für den Dialog empfehle ich, folgende Prinzipien zu beherzigen, denn mit ihnen habe ich gute Erfahrungen gemacht:

 

1. Aktiv zuhören

Die Intensität des Aktiven Zuhörens lässt sich in drei Stufen denken:

Stufe 1: Ich bin ganz Ohr, lasse auf mich wirken, was Du mir zu sagen hast, nehme innerlich Anteil und betrachte das Vorgefallene unvoreingenommen aus Deiner Perspektive, aus der Du mir alles schilderst.

Stufe 2: Ich fasse gelegentlich zusammen, was ich inhaltlich verstanden habe und frage nach, ob Du Dich von mir richtig verstanden fühlst. Wenn ich Dich noch nicht richtig verstanden oder etwas vergessen habe, bitte ich um Ergänzung und Korrektur, bis Du Dich von mir im Wesentlichen wahrgenommen fühlst.

Stufe 3: Ich teile auch mit, welche Gefühle ich bei Dir glaube wahrzunehmen. Beispiel: "... und Du hast den Eindruck, dass ich Dich für Deinen Einsatz nicht genügend würdige und das ärgert Dich?"

Ob ich mit der Aussage über wahrgenommene Gefühle ("...und das ärgert Dich") richtig liege oder nicht, ist zweitrangig. Wichtig ist, dass Gefühle überhaupt zur Sprache kommen und ich Dich somit einlade, auch zu dem, wie Du Dich fühlst, etwas zu sagen – zum Beispiel: "Nein, ärgern trifft es nicht wirklich – ich bin enttäuscht!"

Das nächste Prinzip hilft mir, die nötige Gelassenheit für das aktive Zuhören zu finden, denn mitunter höre ich Dinge, die mich zum Widerspruch einladen – und das kann eine rechte Herausforderung sein, wenn ich ganz anderer Meinung bin.
 

2. Zuhören und Zusammenfassen heißt nicht Recht geben.

Die Tatsache, dass ich verstanden habe, wie Du die Dinge siehst und bewertest und wie Du Dich dabei fühlst und die Tatsache, dass ich Dir dieses Verständnis explizit in eigenen Worten mitteile, so dass Du zustimmen kannst - "ja, genau, so geht es mir, das ist es was ich sagen wollte!" - bedeutet nicht, dass ich Dir deshalb in allem zustimme und meine Interessen aufgebe. Mit dieser Haltung kann ich Dir glaubwürdig zuhören und werde nicht versucht sein, Dir ständig korrigierend ins Wort zu fallen. Wenn Du erleichtert signalisierst, dass Du Dich verstanden fühlst, wirst Du mir vermutlich ebenfalls aufmerksamer zuhören können, wenn ich anschließend meine abweichende Perspektive und meine Interessen erläutere.
 

3. Zwischen Interessen und gewählter Strategie, diese Interessen zu verwirklichen, unterscheiden.

Wenn es gelingt über unsere Interessen und Bedürfnisse zu sprechen, aufgrund derer sich jeder so verhalten hat, wie er sich verhalten hat, stellt sich häufig heraus, dass nur die gewählte Strategie, mit der diese Interessen und Bedürfnisse gewahrt werden sollten, die Absichten des anderen unabsichtlich durchkreuzt haben – zum Beispiel wenn ich zu meiner Entspannung laute Rockmusik höre und Dir damit den Schlaf raube. Ich wollte mich entspannen, nicht Dir den Schlaf rauben. Wenn differenziert wird, können wir würdevoll miteinander das entstandene Problem lösen: "Dass Du Dich entspannen willst, kann ich gut verstehen, das will ich auch hin und wieder tun. Wenn Du es aber auf diese Weise um diese Zeit versuchst, kann ich mich nicht mehr entspannen. Darum wäre ich froh, Du findest eine Form der Entspannung, dir mir meine Entspannung nicht vereitelt." Wenn diese Differenzierung gelingt, weitet sich der Lösungsraum, da mit meinem "Nein" zu Deiner gewählten Strategie nicht gleichzeitig und indirekt auch Deine vitalen Interessen und Bedürfnisse dahinter abgelehnt werden. Und gleichzeitig wirkt es verbindend, wenn wir feststellen, dass wir gleiche Bedürfnisse und Interessen haben – zum Beispiel Entspannung – trotz unterschiedlicher Vorlieben, wie wir zu dem kommen, was wir brauchen.
 

Und wenn uns keine gemeinsamen Interessen verbinden? Dann sind es vielleicht gemeinsame Werte, an denen wir uns bei der gemeinsamen Suche nach einer friedlichen Vereinbarung orientieren (z.B. die Vereinbarung soll fair sein). Und wenn wir uns nicht auf gemeinsame Werte berufen können? Dann helfen nur noch Gesetze und Verträge. Und wenn einer von uns beiden sich auch an diese nicht halten will? Nun ja, dann zählt vermutlich das Gesetz des Stärkeren. Und zu welchen Zuständen das führt erfahren wir spätestens dann, wenn wir uns die aktuellen Nachrichten aus aller Welt zu Gemüte führen.

Mit dem Prinzip, zwischen Interesse und gewählter Strategie zu unterscheiden, ist das Folgende verwandt:
 

4. Beweggrund hinter dem Standpunkt erkunden, um Lösungen zu finden, die allen gerecht werden.

Fisher, Ury und Patton, Autoren des Bestsellers "Das Harvard-Konzept"[1] – inzwischen ein Klassiker in der Literatur zu Verhandlungstechniken - nennen dieses Prinzip auch: "Interessen hinter den Positionen erkunden". Wie dieses Prinzip den Lösungsraum erweitern kann, erläutern die Autoren anhand eines schönen Beispiels: Zwei Menschen treffen sich in der Küche. Jeder will nach der einzigen Orange greifen, die dort auf dem Tisch liegt. Was tun?

  • Gewinner-Verlierer-Spiel: Wer langsamer oder schwächer ist, hat Pech gehabt.
  • Kompromiss: Sie teilen die Orange.
  • Gewinner-Gewinner-Spiel: Sie sprechen darüber, warum jeder Interesse an der Orange hat und siehe da: Der Eine will sich einen Saft pressen, der andere benötigt die Schale, um sie zur Verfeinerung des Kuchens in den Teig zu raspeln. Lösung: Der eine bekommt das Fruchtfleisch, der andere die Schale.

 

 

Natürlich lösen sich nicht alle Konflikte so schön auf wie in dem Beispiel mit der Orange. Jedoch bleibt häufig das Potential für ein Gewinner-Gewinner-Spiel ungenutzt, wenn wir uns nur im Gerangel des gezeigten Verhaltens verkeilen ohne unsere dahinter stehenden Interessen zu erkunden und nach Alternativen zu suchen, die Deinen UND meinen Interessen gerecht werden. Symptomatisch für dieses Verkeilen sind gegenseitige Vorwürfe. Hier kann das nächste Prinzip helfen, das verschüttete Potential für eine gemeinsame Lösung wieder frei zu legen:
 

5. Vorwürfe in Wünsche umwandeln.

Hinter jedem Vorwurf steckt ein Wunsch. "Nie räumst Du auf!" Dein Wunsch dahinter: Ich würde mich freuen, nach Hause zu kommen und eine saubere Wohnung vorzufinden. Denn dann könnte ich mich einfach entspannen und den Abend genießen. "Nie lässt Du mich ausreden!" Dein Wunsch: "Ich möchte meine Meinung in Ruhe äußern und Du hörst mir aufmerksam zu." Wie aus diesen Beispielen unschwer zu erkennen ist, kommen Vorwürfe als "Du-Botschaften" daher und Bedürfnisse und Interessen werden als "Ich-Botschaften" formuliert. Letztere sind eine wirksamere Einladung für Dich, unsere Interessen wahrzunehmen. Meine Vorwürfe sind eine willkommene Einladung für Dich, in den Gegenangriff überzugehen. Sollten tatsächlich auch unsere Interessen unvereinbar erscheinen, empfiehlt es sich zu prüfen, ob wir uns zumindest auf gemeinsame Werte besinnen können, von denen wir uns beim Aushandeln unserer Interessenskonflikte leiten lassen wollen – zum Beispiel "Fairness". Wenn Du den Saft willst und ich den Saft, dann teilen wir uns den Saft oder Du bekommst heute die Orange und ich die Nächste.
 

6. Es geht nicht um Schuld, sondern um die Frage, wie wir es miteinander geschafft haben, in diese schwierige Situation zu geraten und was wir aus dem Geschehenen für eine bessere Zukunft lernen können.

Solange es um die Schuldfrage geht, werden wir beide mehr über unsere Verteidigungsstrategie nachdenken als einander zuhören. Wenn wir uns an die Möglichkeit erinnern, dass häufig nur die gewählte Strategie der Interessenswahrung für den anderen zum Problem geworden ist und nicht die Interessen selbst unvereinbar sind, können wir einander zum Dialog einladen – zum Beispiel mit der Frage: "Was können wir für die Zukunft aus der schmerzhaften Vergangenheit lernen? Wie kannst Du mir in Zukunft auf andere Weise rechtzeitig signalisieren, was Du brauchst?" "Wie können wir in Zukunft besser miteinander umgehen?" – besser im Sinne von: Die wesentlichen Interessen aller Beteiligten werden gewürdigt und gewahrt.
 

7. Zwischen verschiedenen "gefühlten" Wirklichkeiten dolmetschen.

Wir nehmen aus unterschiedlichen Perspektiven mit unterschiedlichen Interessen gemeinsam erlebte Situationen wahr und beschreiben unsere Wahrnehmungen mit Begriffen, die nicht immer so verstanden werden, wie sie gemeint sind. Da im Konfliktfall besonders gerne jeder die vermeintliche Wahrheit für sich beansprucht - jeder meint zu wissen, wie es wirklich gewesen ist -, führen unterschiedliche Wahrnehmungen und Wortwahl schnell zu einer Vertiefung der Gräben. Hier ist Übersetzungshilfe notwendig, damit uns ermöglicht wird, wenigstens im Nachhinein nachvollziehen zu können, wie der Andere die Situation erlebt hat, und was er damals gebraucht hätte. Wenn der Konflikt zwischen uns noch nicht allzu sehr eskaliert ist und noch keine tieferen Wunden geschlagen wurden, ist mit einiger Achtsamkeit die Übersetzungshilfe noch von uns selbst zu leisten, ansonsten brauchen wir einen unbefangenen Dritten, der von uns beiden in der Rolle des Dolmetschers akzeptiert wird. "Du meinst also, ich sei ein egoistischer Kerl, weil Du häufig die Erfahrung machst, dass Du mit Deinen Anliegen zu kurz kommst. Eigentlich geht es jetzt nicht darum, wie ich im Kern meines Wesens wirklich bin, sondern wie es Dir gelingen kann, mit mir zusammen in Zukunft mehr zu dem zu kommen, was Dir wichtig ist. Habe ich Dich da richtig verstanden?" In diesem Beispiel ist eine weitere Falle angesprochen: Pauschalisierungen, verallgemeinernde Behauptungen, Etikettierungen und Zuweisung negativer Eigenschaften, mit denen versucht wird, missliebiges Verhalten des anderen zu erklären (" ....egoistischer Kerl ..."). Um dieser Falle – dem schubladisierenden Denken - zu entgehen, empfehle ich folgendes Prinzip:
 

8. Auf verallgemeinernde Behauptungen ("immer", "nie", "überhaupt nicht", "ganz und gar", ...) verzichten und solche Verallgemeinerungen, wenn sie vom anderen kommen, mit konkreten Beispielen erläutern lassen.

Bei Verallgemeinerungen frage ich interessiert konkretisierend nach, - auch bei abwertenden Beschreibungen von angeblichen Persönlichkeitseigenschaften. Zum Beispiel bei solchen Begriffen wie "faul", "führungsschwach", "konfliktscheu": "In welcher Situation bist Du aufgrund welcher Erfahrungen zu dem Eindruck gekommen, ich sei "faul"? Welche konkreten Erfahrungen legen die Annahme nahe, ich sei "führungsschwach"? Was hättest Du Dir in dieser Situation, in der Du mal wieder den Eindruck gewonnen hast, ich sei "konfliktscheu", von mir konkret gewünscht?

In den Beispielen ist ein Grundmuster der Konfliktkommunikation erkennbar, das es aufzulösen gilt. Dieser Klassiker der Konfliktkommunikationsmuster baut sich folgendermaßen auf:

1. mir fehlt etwas oder verletzt mich in einer konkreten Situation (z.B. ich will, dass man mir zuhört und mich ernst nimmt)

2. ich werfe dem anderen vor, dass er das nicht getan hat ("Du hörst mir nicht zu!")

3. ich verallgemeinere: "Nie hörst Du mir zu!"

4. ich schreibe dem Anderen eine negative Persönlichkeitseigenschaft zu, die sein Verhalten, das so gar nicht meinen Bedürfnissen gerecht wird, erklärt und werfe ihm diese vor: "Du hörst mir nie zu, weil du egozentrisch bist und nur Dich selbst siehst!"
 

Diese vier Schritte müssen wieder zurück gegangen werden, bis wir wieder bei einem konkreten Wunsch in einer konkreten Situation gelandet sind. Anhand der konkreten Situation können wir dann vor dem Hintergrund Deiner und meiner Interessen überlegen, was jeder von uns in Zukunft dazu beitragen kann, dass wir in einer ähnlichen Situation besser miteinander umgehen können. Zum Beispiel kann dies eine klar geäußerte Bitte sein, und / oder die Bereitschaft von Dir, mir dabei zu helfen, Deinem Wunsch zu entsprechen. Vielleicht brauche ich, um Deine Bitte zu erfüllen, einen frei wählbaren Zeitpunkt, oder die Möglichkeit, das Gewünschte auf meine persönliche Weise zu erledigen oder die Erfahrung, dass Du es mir nicht gleich übel nimmst, wenn ich Deine Bitte auch einmal nicht erfülle.
 

9. Nicht glauben, alle Konflikte ließen sich lösen. Statt dessen sich in der Kunst üben, mit Konflikten zu leben, ohne sie unnötig eskalieren zu lassen.

Viele Konflikte entstehen in Spannungsfeldern, die durch gegensätzliche Pole bzw. widersprüchliche Notwendigkeiten geschaffen werden. Hier ist es schon ein Erfolg, wenn mit großer Achtsamkeit die innewohnende Widersprüchlichkeit wahrgenommen wird und als positives Spannungsfeld genutzt werden kann. Als klassisches Beispiel bietet sich jenes an, das gerne zur Erläuterung des dialektischen Wertequadrats verwendet wird: Wenn ich einen Hang zur Großzügigkeit habe und Du zur Sparsamkeit, - beides unverzichtbare Qualitäten! - dann kann es in Zeiten der Geldknappheit auch mal schnell zu gegenseitigen Vorwürfen kommen: "Du mit Deiner Verschwendungssucht!" "Ja und Du mit Deinem Geiz!" Die Qualität, die durch ein gelebtes positives Spannungsfeld zwischen den Polen "Großzügigkeit und Sparsamkeit" gewonnen werden kann, können wir dann beispielsweise "Großzügiger Umgang mit Geld bei gleichzeitiger Bildung notwendiger Rücklagen" nennen. Siehe hierzu für die genauere Erläuterung mein Essay "Die Quadratur der Werte", in dem ich das Wertequadrat ausführlich erläutere[2]

Diese Spannungsfelder entstehen nicht nur in persönlichen Beziehungen, sondern sind in Organisationen sogar strukturell eingebaut und somit nicht lösbar, da es für die Überlebensfähigkeit in komplexen dynamischen Umwelten unverzichtbar ist, unvereinbar erscheinende Ziele gleichzeitig zu verfolgen – zum Beispiel die Reduktion der Kosten im Gesundheitswesen bei gleichzeitig optimaler Versorgung der Patienten nach allen Regeln der Kunst[3]. In meiner Arbeit als Begleiter von Klärungsprozessen habe ich schon manch tragisches Beispiel dafür erlebt, dass solche strukturell eingebauten Spannungsfelder nicht als solche genügend erkannt und auf persönlicher Ebene ausgetragen werden. Die Folge davon ist, dass sich die Vertreter der jeweiligen Einheiten mit hohen emotionalen Kosten in einem Konflikt verschleissen, der auf persönlicher Ebener gar nicht lösbar ist, sondern nur gemeinsam ein kluger Umgang mit dem strukturell eingebauten Spannungsfeld gefunden werden kann.
 

10. Sich frei fühlen, alle erläuterten Prinzipien in den Wind zu schlagen und Konflikte einfach auszufechten.

Ich erlaube mir, auch mal ungeschminkt das zu sagen, was sich in mir angestaut hat, - auch wenn es zunächst einmal in Form von Vorwürfen geschieht - weil es mich ansonsten innerlich vergiften würde[4]. Und ich fühle mich frei, wenn sich unsere Gemüter beruhigt haben, einen zweiten Anlauf zu nehmen, mich für zu hart Gesagtes zu entschuldigen und mit Hilfe der oben erwähnten Prinzipien zu erkunden, wie wir zu einem besseren Miteinander kommen können. Letztendlich bin ich immer frei und kann jedes Mal neu erfahren, was sich – gemessen an meinen Werten und dem, was Du mir wert bist – besser ist: erkunden oder verwunden. Und wenn Letzteres – die Verwundung – trotz beherztem Ausfechten des Konfliktes nicht geschieht, dann war es vielleicht gar kein Konflikt, sondern nur ein spielerisches Kräftemessen, ein Tanz zwischen gegensätzlichen Polen, zwischen denen alles Leben, alle Begegnung geschieht.

Ingo Heyn

März 2017

 


 


Wir brauchen uns nicht weiter
vor Auseinandersetzungen, Konflikten
oder irgendwelchen Problemen mit
uns selbst und anderen zu fürchten.
Selbst Sterne krachen aufeinander
und aus ihrem Zusammenprall werden
neue Welten geboren.
Heute weiß ich: So ist das Leben ...


Auszug aus einem Gedicht von
Charlie Chaplin zu seinem
70. Geburtstag am 16. April 1959

 



 


 

Literatur 
 

  • Pörksen, Bernhard; Schulz von Thun, Friedemann: Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik. Hanser Verlag, 2020.
  • weiterführende Literatur:
    Stavros, Jacqueline M. Stavros & Torres, Cheri: Conversations worth having. 2018


 

 


 

Weblinks 
 

  • Die konstruktive Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Perspektiven, Meinungen und Interessen ist unverzichtbar für demokratische Gesellschaften und gemeinsames Lernen in Unternehmen. Wir erleben eine Polarisierung öffentlicher Debatten und eine bedrohlich zunehmende Neigung, Andersdenkenden nicht mehr zuzuhören, das Gespräch zu verweigern und sie nur noch abzuwerten, ja zu bekämpfen und mundtot zu machen. In dem Artikel ''The Dying Art of Disagreement'', erschienen in der New York Times, wirbt Bret Stephens dafür, sich in der Kunst der Auseinandersetzung zu üben - zum Wohle der Freiheit und Demokratie. Auch mit schrecklich anmutenden Andersdenkenden - ein äusserst inspirierender Artikel finde ich:
    The Dying Art of Disagreement

 

 

 Fussnoten 


 

  1. Fisher, R.; Ury, W., Patton, B.: Das Harvard-Konzept, Der Klassiker der Verhandlungstechnik, Campus Verlag, 23. Auflage, 2009
     
  2. Die Quadratur der Werte
     
  3. Ehmer, S u. a.: Überleben in der Gleichzeitigkeit. Leadership in der "Organisation N.N.", Carl-Auer Verlag, 2016
     
  4. siehe hierzu auch den Beitrag von Prof. Schulz von Thun: Die Rehabilitation der Du-Botschaft in "Miteinander reden: Fragen und Antworten", 2007.